Psychische Erkrankungen stellen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für deren Angehörige eine massive Erschütterung dar. Georg Psota erklärt im Interview, wo die Grenze zwischen helfen wollen und helfen können verläuft. Der Psychiater ist Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien und Präsident von pro mente Wien.
Access Guide Magazin: Eine psychische Erkrankung ist nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für deren Angehörige extrem belastend. Wo finden Angehörige Hilfe?
Georg Psota: Nicht nur psychische, sondern auch körperliche Erkrankungen können für Angehörige zur Belastung werden. Eine Unterteilung in psychische und körperliche Krankheiten fördert nur die Stigmatisierung der psychischen Erkrankungen. Unterscheiden lässt sich lediglich der Schweregrad einer Erkrankung. Es gibt leichte, mittelgradige und schwere Erkrankungen. Letztere sind für Angehörige extrem belastend. Wenn Angehörige bereit sind, Hilfe anzunehmen, gibt es zahlreiche Möglichkeiten. Informationen dazu gibt es in jeder psychiatrischen oder psychotherapeutischen Institution. Die größte Lobby für Angehörige von Menschen mit psychischer Erkrankung ist sicherlich die HPE.
Access Guide Magazin: In welchem Ausmaß trifft die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen auch deren Angehörige?
Georg Psota: Es ist leider immer noch so, dass zusätzlich zur mehr als entbehrlichen Stigmatisierung der psychisch Erkrankten auch noch die der Angehörigen kommt. Auch das ist wiederum abhängig vom Schweregrad. Wenn jemand beispielsweise eine schwere Spinnenphobie hat, wird das die Familie – in unseren Breitengraden – nicht sonderlich stigmatisieren.
Menschen mit schweren psychotischen Erkrankungen sind aber viel stärker stigmatisiert – auch weil sie sich oft noch zusätzlich selbst stigmatisieren. Die Angehörigen sind dabei auch noch häufig mit entbehrlichen Fragen nach ihrer Beteiligung an der Erkrankung konfrontiert.
Die Stigmatisierung betrifft auch Angehörige von Demenzkranken oder körperlich schwer Erkrankten. Ich fordere schon länger eine Gleichstellung von psychischen und körperlichen Krankheiten; differenziert werden soll bei der Schwere der Erkrankung, oder ob sie akut, chronisch oder wiederkehrend ist.
Access Guide Magazin: Angehörige von Erkrankten leiden oft unter Schuldgefühlen, weil sie ihren Angehörigen nicht helfen können. Aber wie viel Hilfe können oder sollen Angehörige überhaupt leisten?
Georg Psota: Da eine allgemeine Richtlinie zu geben, ist gar nicht so einfach. Generell würde ich sagen „So viel wie nötig, aber nicht so viel, wie möglich“. Für Angehörige ist es auch wichtig, sich abzugrenzen. Wer dauerhaft hilft, brennt aus – das tut einem selbst nicht gut und auch nicht dem anderen. Wenn man etwas gibt, muss man selber etwas haben, das man geben kann. Dabei darf man die Grenze des Sinnhaften nie aus den Augen verlieren. Angehörige haben zudem nicht nur ein Recht auf ein eigenes Leben, mitunter haben sie sogar die Pflicht dazu.
Ansonsten hilft die Überlegung „Was tut dem Kranken gut – was nicht“. Wenn man einem Kranken alles abnimmt, ist das genauso wenig förderlich, wie wenn man ihn fallen lässt.
Einem Menschen mit schwerer Prüfungsangst ist nicht geholfen, wenn er sich der Prüfungssituation nicht stellt. Das kann man ihm nicht abnehmen und es würde nur ein Vermeidungsverhalten fördern. Bei einem Demenzkranken, der seine Hygiene vernachlässigt und sich nicht mehr der Witterung entsprechend kleiden kann, muss man unterstützend einspringen. Schwere Formen der psychotischen Erkrankung bewegen sich auch in diesem Feld.
Access Guide Magazin: Werden Angehörige bei der Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ausreichend mitbedacht?
Georg Psota: Eindeutig nein. Das gilt allerdings auch für die Betreuung der Angehörigen von körperlich Erkrankten. Da gibt es eine negative Gleichstellung. Hier bieten fast ausschließlich Selbsthilfegruppen Unterstützung an.
Access Guide Magazin: Wie erklärt man Kindern, was passiert, wenn ein Elternteil an einer psychischen Krankheit leidet. Welche Hilfsangebote gibt es für Kinder?
Georg Psota: Da kommt es darauf an, wie alt das Kind ist. Es hängt auch vom Entwicklungsstand und Reifegrad des Kindes ab und von der Diskussionskultur in der sozialen Gruppe, in der das Kind aufwächst. Es gibt inzwischen eine Reihe von Kind-bezogenen Informations- Broschüren und Büchern auf diesem Gebiet. Es reicht freilich nicht, dieses Material den Kindern einfach vorzulegen. Es ist wichtig, eine Form der Kommunikation zu finden, die für das Kind akzeptabel ist. Auf keinen Fall darf sich das Kind schuldig an der Erkrankung des Elternteils fühlen.
Der Vorteil von Kindern unter zehn Jahren ist aber, dass sie nicht so sehr zwischen psychischen und körperlichen Erkrankungen unterscheiden. Für diese Altersgruppe ist krank, einfach krank, egal weshalb.
Access Guide Magazin: Gibt es Grundregeln in der Kommunikation im Umgang mit einem psychisch Erkrankten? Worauf sollte man als Angehöriger dabei achten?
Georg Psota: Auch hier kommt es auf den Schweregrad der Erkrankung an. Es ist beispielsweise ein Unterschied ob es sich um einen Schnupfen oder ein Melanom handelt. Im Krankheitsfall gelten generell dieselben Kommunikationsgrundregeln wie in unserem Alltag. Beim Umgang mit Erkrankten muss klar sein, dass da zwei unterschiedliche Individuen kommunizieren: Die Erkrankung des einen ist an dessen individuelles Sein gekoppelt und hat nichts mit dem Angehörigen zu tun. Es darf keine symbiotische Verschmelzung geben. Das „Wir“ im Sinne von „heute haben wir aber wieder stark halluziniert“ sollte vermieden werden. Im Umgang mit einem erkrankten Angehörigen sollte die respektvolle Grenze gewahrt werden, wie auch sonst im Leben. Frei nach Paul Watzlawick sollte einem bewusst sein: Der Beobachter ist immer Teil der Beobachtung und so sehen alle BeobachterInnen etwas anderes.
In diesem Zusammenhang muss man erkennen, wo Kommunikation gelingt und wo sie misslingt. Wenn es mit jedem Gespräch schlechter wird, dann bringt es nichts so weiterzumachen. Noch mehr vom selben führt nicht zum Ziel. Wichtig ist zudem dass Betroffene und Angehörige auf derselben Ebene kommunizieren – es darf keine Schiefebene geben. Das gilt übrigens auch für Therapeuten und Psychiater.
Access Guide Magazin. Kommt Angehörigenbetreuung in der Ressourcenplanung von heimischen psychiatrischen Einrichtungen ausreichend vor?
Georg Psota: Im „Psychiatrischer und Psychosomatischer Versorgungsplan Wien 2030“ ist zwar ganz klar formuliert, dass es zu einer besseren Angehörigenwahrnehmung kommen muss; die Angehörigen arbeiten ja auch am Plan mit. Aber das dauert noch. Aktuell ist die Angehörigenbetreuung noch nicht ausreichend. Das betrifft aber – wie erwähnt – auch alle anderen Krankheitsfelder.
Access Guide Magazin: Was kann man als Angehöriger tun, wenn man bemerkt, dass ein nahestehender Mensch psychisch krank wird?
Georg Psota: Es gibt Warnsignale. Das einfachste – wenn auch nicht erste – davon ist der Schlaf: Wenn es zu einer Veränderung des Schlafrhythmus kommt, ist das ein „harter“ Parameter. Weitere Anzeichen für eine psychische Erkrankung sind gravierender, sozialer Rückzug oder eine massive Veränderung der essentiellen Verhaltensweisen. Das sollte man – mit Feingefühl – auf alle Fälle ansprechen. Aber nicht vorwurfsvoll, sondern besorgt, beispielsweise mit der Frage: „Ich habe das Gefühl, dass es dir schlecht geht …“ oder ähnliches.
Access Guide Magazin: Vielen Erkrankten fehlt die Krankheitseinsicht. Wie können Angehörige darauf reagieren?
Georg Psota: Da hilft es, wenn man zuerst einmal die eigene Einstellung dazu hinterfragt. Sich eine psychische Erkrankung einzugestehen ist eine schwere Erschütterung des Selbstkonzepts. Das muss man als Angehöriger immer mitbedenken. Es ist einfacher, Krankheiten wegzuschieben, als sie zu akzeptieren. Wenn Angehörige aus einer Erkrankung eine hysterische Katastrophe machen, erhöht das die Last für den Erkrankten noch zusätzlich. Es ist besser, pragmatisch vorzugehen – und da komme ich wieder zur notwendigen Gleichstellung von psychischen und körperlichen Erkrankungen: Wenn jemand Rheuma hat, wird er die entsprechenden Medikamente nehmen. Ähnlich selbstverständlich sollte das auch bei psychischen Erkrankungen sein.
Wenn Kinder in einer Familie groß werden, in der die Eltern einen erwachsenen und aufgeklärten und informierten Umgang mit dem Thema „Erkrankung“ haben, wird es den Kindern auch leichter fallen, adäquat damit umzugehen.
Aber es muss einem schon klar sein, dass eine schwere psychische Erkrankung eine massive Erschütterung ist. Das einzusehen, ist keine leichte Aufgabe. Wir wären am liebsten alle gesund, glücklich, reich und zufrieden. Aber das sind wir selten.
Access Guide Magazin: Danke für das Gespräch.
Buchtipps: Im Residenzverlag sind zwei Bücher von Georg Psota und Michael Horowitz erschienen: „Angst – Erkennen – Verstehen – Überwinden“ und „Das weite Land der Seele – Über die Psyche in einer verrückten Welt“