Das Kunst Haus Wien widmet sich von 11. September 2019 bis 16. Februar 2020 dem wohl beliebtesten Genre der Fotografie, der Street Photography. Unter dem Titel „Street. Life. Photography“ präsentiert die Ausstellung Ikonen der Street Photography aus sieben Jahrzehnten: Über 35 internationale Positionen veranschaulichen die Umbrüche und ästhetischen Entwicklungen der „Street“ von den 1930er-Jahren bis in die Gegenwart. Klassiker wie Lisette Model, Diane Arbus, Robert Frank, William Klein oder Lee Friedlander, Martin Parr oder der österreichische Fotografe Erich Lessing stehen aktuellen KünstlerInnen gegenüber. Mehr als 200 Werke fokussieren auf das Leben im urbanen Raum und zeigen ungeschönt, was Menschen von New York, London, Tokyo, Paris bis Wien seit Jahrzehnten auf die Straße treibt.
Breites Spekturm
„Street Life“, „Crashes“, „Public Transfer“, „Anonymity“ und „Alienation“ – in fünf Kaleidoskop artig angelegten Kapiteln behandelt die Ausstellung die zentralen Themenfelder der Street Photography und zieht die BesucherInnen in unterschiedlichste, teils surreal erscheinende Bildweiten. Die analoge tritt neben die digitale Fotografie, die Kleinbildkamera neben die Großbildkamera, Schwarz-Weiß-Fotografie trifft auf Farbfotografie und vertraute Ikonen der Fotografie Geschichte. Diese werden mit jüngeren, zeitgenössischen Positionen wie Mohamed Bourouissa, Philip-Lorca diCorcia, Melanzie Einzig, Harri Pälviranta, Wolfgang Tillmans oder österreichischen KünstlerInnen wie Alex Dietrich, Lies Maculan in Verbindung gebracht – und eröffnen einen neuen Blick auf die unterschiedlichen Räume der Stadt, die die Beobachtung der urbanen Umgebung früher und heute bietet. In dem Moment, in dem die FotografInnen in der Öffentlichkeit zur Kamera greifen, verwandelt sich die Straße zur Bühne. Die äußere Erscheinung von PassantInnen, ihre Handlungen, ihre Gestik und Mimik werden Teil einer Performance, die eine Vielzahl von Eindrücken bündelt oder einzelne Momente festhält. Faszinierend sind dabei die ganz unterschiedlichen Herangehensweisen der FotografInnen: Diane Arbus, Lisette Model, Erich Lessing, Melanie Einzig, Candida Höfer und Maciej Dakowicz, aber auch Peter Funch behalten einen gewissen Abstand zu den fotografierten Szenen bei. Andere FotografInnen wie etwa William Klein, Bruce Gilden und Dougie Wallace verfolgen einen impulsiven, oft sehr spontanen Ansatz und liefern sich dabei ganz dem „Ballett der Straße“ aus.
Urbane Zusammenstöße
Das englische „crash“ bedeutet „Unfall“, „Absturz, „Zusammenstoß“ oder „Zusammenbruch“. In den Arbeiten von Arnold Odermatt, Andrew Savulich, Mohamed Bourouissa, Jesse Marlow, Axel Schön und Lies Maculan unterbrechen Irritationen und Störungen abrupt oder auch schleichend die Sicht auf den stetig fortlaufenden Fluss des Lebens auf der Straße. Alex Dietrich konfrontiert mit sich nicht erfüllenden Erwartungen. Neben Aspekten offensichtlicher Gewalt und Zerstörung – wie bei Erich Lessing – sind es dabei leise zeitliche Diskrepanzen, die etwa bei Harri Pälviranta aufeinandertreffen zu scheinen und die Orientierung hinsichtlich des zeitlichen Gefüges ins Wanken bringen. Die Straße wird zur Kulisse für reale oder – wie bei Mirko Martin – inszenierte Unfälle, Gewaltakte, Konflikte und gesellschaftliche Veränderungen. Fiktion und Wirklichkeit werden dabei auf schmalem Grat gegeneinander ausbalanciert.
Reisende im Fokus
Große Teile des alltäglichen Lebens in der Stadt sind von der Überbrückung räumlicher Distanzen geprägt: Abgesehen vom Auto ist es in erster Linie der öffentliche Nahverkehr mit Bussen und Bahnen, U- und S-Bahnen, der von Millionen von Menschen rund um die Uhr genutzt wird. Die eigentümlich vom Leben auf der Straße separierte Parallelwelt beinhaltet eigene Regeln und Herausforderungen wie Geduld, Ausdauer und Leidensfähigkeit. Das kuriose Nebeneinander privater und öffentlicher Sphäre schafft einen interessanten wie spannungsreichen Grenzbereich menschlichen Verhaltens, dem sich Andrew Buurman, Wolfgang Tillmans, Loredana Nemes, Dougie Wallace, Michael Wolf, Natan Dvir und Rudi Meisel angenommen haben.
Momente der Verfremdung
„Alienation“ geht auf das lateinische „alienatio“ zurück, was Verfremdung, aber auch Distanzierung bedeuten kann. Im Kontext dieser Gruppe bezieht sich der Begriff auf den Einsatz gestalterischer Mittel, die sich durch ihre Abweichung vom Erwarteten und Gewohnten charakterisieren lassen. So integriert Lee Friedlander konsequent seinen eigenen Schatten in seine Arbeiten, er ist gleichzeitig anwesend, aber auch abwesend. Thematisieren die Arbeiten von Philip-Lorca diCorcia Aspekte der Selbstentfremdung seiner PassantInnen, nimmt Robert Frank seine amerikanische Wahlheimat aus einem speziellen Blickwinkel wahr. Arbeiten von Doug Rickard, die er von dem Monitor abfotografiert, die durch starkes Blitzlicht isolierten Menschen in Martin Parrs Bildern, die Gruppenfotos von Melanie Manchot, Natan Dvir und Slinkachu’s Aufnahmen spielen ganz bewusst mit gestalterischen Möglichkeiten der Verfremdung.
Anonymität in der Großstadt
Ein wesentlicher Kritikpunkt am Leben innerhalb großstädtischer Strukturen ist der befürchtete Verlust sozialer Nähe und das daran gekoppelte Abdriften in die Anonymität. Dies trifft nicht nur allein auf die Menschen in ihren Bildern, sondern genauso auch auf die FotografInnen selbst zu, die ihrerseits anonym bleiben. Die fotografische Auseinandersetzung mit der Anonymität beinhaltet das Ausloten dieser, sie zu begreifen und darzustellen. Unter unterschiedlichen gestalterischen und inhaltlichen Ansätzen erkunden die Arbeiten von Merry Alpern, Yasmine Chatila, Leon Levinstein, aber auch Harry Callahan, Siegfried Hansen und Stephen Shore das Phänomen der Anonymität innerhalb des urbanen Gefüges. Die Ausstellung „Street. Life. Photography“ ist eine Kooperation der Deichtorhallen Hamburg mit dem Kunst Haus Wien und dem Fotomuseum Winterthur u.a. mit Werken aus der Sammlung FC Gundlach. Kuratiert wird die Schau von Sabine Schnakenberg (Haus der Photographie/Deichtorhallen Hamburg) in Zusammenarbeit mit Verena Kaspar-Eisert vom Kunst Haus Wien