Immer nie dabei

Jeder vierte Mensch ist nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO einmal im Leben von einer psychischen Erkrankung betroffen. In Österreich sind es pro Jahr 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung. Der persönliche Leidensdruck der Betroffenen und ihrer Angehörigen wird durch die gesellschaftliche Stigmatisierung noch zusätzlich erhöht. Dabei gilt das von den Vereinten Nationen vor mittlerweile 20 Jahren deklarierte Menschenrecht auf Inklusion auch für psychisch Kranke. Ein nachhaltiges Umdenken ist aber noch lange nicht in Sicht.

Kurz vor der Matura begann das Leben von Christoph* aus dem Ruder zu laufen. Den Sommer über hatte er in einer Fabrik gejobbt, um sich mit dem Geld einen Europa-Trip zu finanzieren. Aber statt sich das ersehnte Bahn-Ticket zu kaufen, streunte der 19-Jährige aufgekratzt durch die Gegend: „Es war meine erste, manische Phase“, erinnert sich der heute 45-Jährige. Nachdem er mehrere Nächte nicht geschlafen hatte, brachte ihn seine Mutter schließlich zum Arzt, der eine Einweisung nach Gugging empfahl. Seit damals lebt Christoph mit der Diagnose Bipolare Störung. „Am Anfang hab ich niemandem davon erzählt, weil ich mich geschämt habe. Aber ich habe gelernt, die Krankheit als Teil von mir zu akzeptieren und dabei hilft es, wenn man offen damit umgeht“, sagt Christoph. Das gilt in seinem Fall allerdings nur für den engeren Freundeskreis. An seinem Arbeitsplatz ist die Krankheit immer noch tabu: „Es ist leichter über eine körperliche, als über eine psychische Erkrankung zu reden. Da gibt es einfach immer noch zu viele Vorurteile – und denen möchte ich mich nicht aussetzen“. Vor allem aber will Christoph den Job nicht riskieren, denn „die Arbeit hilft mir dabei, stabil zu sein“.

Böse Stimmen

Während Christoph durch seine Krankheit auch mitunter Positives erlebte: „Die Glücksmomente der Manie gibt es im sedierten Leben nicht“ – hat Alois* seine paranoide Schizophrenie immer nur als „Hölle“ empfunden: „Bei meinem ersten, stationären Aufenthalt war ich 27. Dorthin gebracht hat mich ein psychotischer Schub, bei dem mir Todesengel teuflische Aufträge erteilt haben. Ich war im Zentrum eines lebensgefährlichen Sturms – und gleichzeitig am Rand der Welt“, erzählt der heute 56-Jährige. Runter geholt haben ihn schließlich die Medikamente, wobei es „jahrelang gedauert hat, bis ich richtig eingestellt war“. Immer wieder versuchte der Steirer im Arbeitsleben Fuß zu fassen. Und immer wieder warfen ihn erneute Schübe aus der Bahn. „Gegen die Invaliditätsrente, die ich heute beziehe, habe ich mich lange gewehrt. Ich wollte ein `normales` Leben führen“. Seit zehn Jahren hatte Alois keinen Rückfall mehr. Geholfen haben ihm Medikamente und ein Betreuer, der ihn seit über einem Jahrzehnt begleitet. „Jetzt geht es mir gut, aber ich bete täglich, dass die Teufel nie wieder zurückkommen.“

Liebe & Arbeit

Warum es manche Menschen mit Psychosen dennoch schaffen, selbstbestimmt zu leben, hat die amerikanische Juristin und Psychologin Elyn Saks untersucht. Sie leidet selbst seit mehr als 30 Jahren an Schizophrenie. Saks befragte andere Betroffene – darunter erfolgreiche Manager, Ärzte oder Rechtsanwälte, wie ihnen ein weitgehend stabiles Leben gelingt. Die Antworten fielen unterschiedlich aus: „Einige stellen ihre Wahnvorstellungen systematisch in Frage, andere versuchen die Überfülle an Sinneseindrücken durch das Hören sanfter Musik zu kontrollieren oder vermeiden konsequent die Auslöser ihrer Symptome“. Was aber bei fast allen der beste Abwehrmechanismus sei, ist Arbeit, denn „Menschen die an einer Geisteskrankheit leiden, wollen – wie Sigmund Freud sagt – das, was alle Menschen wollen: lieben und arbeiten“ meint die Wissenschaftlerin in diesem Video.

Mitten im Leben

Wie wichtig Arbeit als Motor der Integration ist, weiß auch Mag.a. Manuela Schagerl. „Durch eine erfüllende Beschäftigung verbessert und stabilisiert sich die psychosoziale Gesundheit der Betroffenen“, sagt die Phönix Project – Geschäftsführerin. Das Institut bietet seit zwölf Jahren Qualifizierungs- und Beratungsangebote für den Erst- oder Wiedereinstieg ins Berufsleben für Menschen mit psychischen Erkrankungen. „Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch, vergleichbar mit dem Phönix, der aus der Asche wiederaufersteht, diese Kraft zur eigenen Erneuerung und zum Neustart in sich trägt“, so Schagerl.

Zum Thema „Stigmatisierung von Menschen mit psychischer Erkrankung“ hat das Access Guide Magazin auch ein Interview mit der Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin Mag.a. Evelyn Böhmer-Laufer geführt. Ein weiteres Interview mit HRin Dr.in Andrea Schmon vom Sozialministeriumservice gibt es hier.

* Namen von der Redaktion geändert