Der Anteil von Menschen mit Adipositas ist in den Industriestaaten in den vergangenen 20 Jahren stark gestiegen. In Österreich ist laut dem Gesundheitsbericht 2016 fast ein Drittel der Bevölkerung ab 15 übergewichtig, 14 Prozent sind adipös. Darunter sind deutlich mehr Männer als Frauen. Den meisten Betroffenen fällt es sehr schwer, Gewicht zu verlieren. Diäten bringen oft nur einen kurzfristigen Erfolg. Bettina Habith, Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision, erklärt im Interview, wie es gelingen kann, langfristig abzunehmen.
Access Guide Magazin: Wie sieht der erste Schritt beim Abnehmen aus therapeutischer Sicht aus?
Bettina Habith: Am Anfang kommt die Anamnese. Dabei werden Fragen nach der Dauer des Übergewichts, dem sozialen Umfeld und der familiären Geschichte gestellt. So kann geklärt werden, wo die Wurzel des Problems liegt. Bei sehr starkem Übergewicht oder Adipositas ist außerdem eine medizinische Abklärung unbedingt notwendig. Und schließlich wird nach den Motiven gefragt: Sind es äußere oder innere Faktoren, die den Wunsch abzunehmen bestimmen. Dabei ist der Selbstwert ein zentrales Thema. Da muss man ansetzen, um erfolgreich zu sein, z.B. durch kognitive Verhaltenstherapie. Zentrales Ziel dabei ist es ein problematisches Essverhalten abzubauen und ein normales, gesundes Essverhalten aufzubauen. Die kognitive Verhaltenstherapie kann unterstützend dahingehend dysfunktionale Kognitionen – also Denkfehler – und Grundannahmen bewusstmachen, Einstellungen zum Essen und die Funktion von Essen als Emotionsregulationsstrategie (Affektregulation) verändern und konkretes, hilfreiches Verhalten im Hinblick auf eine Rückfallprophylaxe entwickeln. Wenn es z.B. die Grundannahme gibt „Ich bin nicht liebenswert“ „Ich bin wertlos“, wird versucht diese, die sich oft bereits durch ablehnende Erfahrungen in der Kindheit entwickelt haben kognitiv „umzustrukturieren“ d.h. man versucht diese „Lebensmotti“ zu hinterfragen.
Access Guide Magazin: Diäten und Abnehmen werden von vielen Übergewichtigen oft als Lustverzicht und Qual empfunden – wie kann da eine Umdeutung ins Positive gelingen?
Bettina Habith: Diäten gewähren nur einen kurzfristigen Erfolg. Nachhaltig erfolgreich kann nur eine langfristige Lebensumstellung sein. Ein langfristiges Ergebnis muss in den Lebensstil eingegliedert werden. Dafür kann z.B. auch der Partner oder die Familie ins Boot geholt werden. Um vom Lustverzicht zum Genuss zu kommen helfen die Genussregeln von Rainer Lutz, die er in der „Kleinen Schule des Genießens“ definiert hat: 1. Genuss braucht Zeit d.h. in der Hektik des Alltags Zeit finden/sich nehmen, bewusst Zeit einplanen, Pausen schaffen um den Genuss zulassen zu können. 2. Genuss muss erlaubt sein. Nicht jeder hat gelernt, was es heißt genießen zu können und auch zu DÜRFEN. Wichtig ist dies daher auch zu erlernen. 3. Genuss geht nicht nebenbei. Genuss braucht nicht nur Zeit sondern auch Aufmerksamkeit. 4. Wissen, was einem gut tut. Eigene Vorlieben und Geschmäcker entdecken. 5. Weniger ist mehr. Genuss braucht nicht viel und kann auch „im Kleinen“ gefunden werden. 6. Ohne Erfahrung kein Genuss. Genuss wird erst über Erfahrungen geformt. Und 7. Genuss ist alltäglich. Genuss entsteht auch im Alltäglichen. Wichtig ist dabei auch, die eigenen Erfolgsmomente zu sehen. Daher sollten vor Beginn einer Diät konkrete Ziele formuliert und auch Zwischenziele festlegt werden, die den Erfolg sichtbar machen. Dabei sollte eine bestimmte Zahl auf der Waage nicht der einzige „Messwert“ sein.
Access Guide Magazin: Eine nachhaltige Gewichtsreduktion kann meist nur durch eine Ernährungsumstellung erfolgen. Wie schaut eine gesunde, ausgewogene Ernährung aus? Worauf ist dabei zu achten?
Bettina Habith: Wenn es bereits Adipositas ist, braucht es meistens zusätzlich ein medizinisches Regulativ. Im Übergewichtsbereich ist abwechslungsreiche, intuitive Ernährung wichtig. Übergewichtige müssen oft wieder lernen, wann sie Hunger haben. Gut sind auch bestimmte Rituale: also nicht nebenbei essen, sondern sich Zeit für das Essen zu nehmen. Eine ausgewogene Ernährung bedeutet, sich abwechslungsreich und nach Möglichkeit saisonal und regional zu ernähren, in dieser der Bedarf an allen Nährstoffen, wie Kohlenhydrate, Eiweiß, Fett sowie allen Vitaminen und Mineralstoffen ausreichend gedeckt wird. Dabei soll vor allem auf unverarbeitete Lebensmittel zurückgegriffen werden. Zucker sollte möglichst aus natürlichen Quellen wie Obst stammen. Fertiggerichte sind nicht ideal, weil sie oft Transfette oder Geschmacksverstärker enthalten, die Hungerattacken und somit Übergewicht fördern können.
Access Guide Magazin: Wie wichtig ist Prävention bei Übergewicht-Gefahr, wer sollte besonders darauf achten?
Bettina Habith: Im Rahmen der Gesundheitsförderung sollten Ernährungs- und Bewegungskonzepte schon im Kindergarten vorgestellt werden. Das passiert momentan noch zu wenig. Unser individuelles Essverhalten hängt auch von den Mustern ab, die wir als Kinder erlernt haben. Prävention kann über den Setting-Ansatz der Gesundheitsförderung in allen Lebensbereichen gut gelingen, da auf die individuellen Bedürfnisse und Anforderungen der jeweiligen Lebenswelt eingegangen werden kann. Der Setting-Ansatz oder „Lebenswelt-Ansatz“ in der Gesundheitsförderung stellt beispielsweise die jeweilige Lebenswelt (Kindergarten, Schule, Betrieb, Stadt …) in den Fokus und versucht die dort vorliegenden Rahmen- und Lebensbedingungen gesundheitsförderlich zu gestalten und nachhaltig zu festigen.
Access Guide Magazin: Menschen mit starkem Übergewicht leiden nicht nur an körperlichen Begleiterscheinungen, sondern auch an der gesellschaftlichen Stigmatisierung? Wie kann das therapeutisch aufgearbeitet werden?
Bettina Habith: Wenn jemand bereits als Kind wegen seines Übergewichts gemobbt wird, findet schon Ausgrenzung statt. Da ist der Selbstwert ein wesentlicher Faktor und die Fragen: Wie sehe ich mich selbst oder auf welchen Säulen basiert mein Selbstwert? Wichtig ist auch die Selbstfürsorge: Wie gut gehe ich mit mir und meinen Ressourcen um. Wie reagiere ich bei hohem Leistungsdruck? Brauche ich Essen zur Emotionsregulation? Therapeutisch kann dann eine Änderung des Verhaltens möglich werden.
Access Guide Magazin: Können Apps dabei helfen, Gewicht zu verlieren?
Bettina Habith: Apps sind sehr hilfreich, wenn man noch nicht zu hohes Übergewicht hat. Beim Erlernen neuer Ernährungsgewohnheiten kann eine App ein nützliches Tool sein – es sei denn man hat eine Essstörung. Allerdings sollte man sich nicht auf ewig an die App binden, sondern sie lediglich in der Anfangszeit verwenden, um Lebensmittel kennen zu lernen und das eigene Essverhalten zu dokumentieren. Die Lebensstiländerung sollte so verinnerlicht werden, dass man keine App mehr braucht.
Access Guide Magazin: Vielen Dank für das Gespräch.