Der massive Einbruch auf dem österreichischen Arbeitsmarkt kann nur durch weitreichende wirtschaftspolitische und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen bewältigt werden. Renate Anderl, Präsidentin der Arbeiterkammer Wien und der Bundesarbeitskammer erklärt im Interview, was nun notwenig ist.
Access Guide Magazin: Die Zahl der Arbeitslosen ist momentan so hoch wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Welche Strategien sind nun gefragt?
Renate Anderl: Die COVID-19-Pandemie führte in Österreich nicht nur zu einer schweren Gesundheitskrise, sondern löste auch den tiefsten wirtschaftlichen Einbruch der Zweiten Republik aus. Der massive Einbruch auf dem österreichischen Arbeitsmarkt kann nur durch weitreichende wirtschaftspolitische und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen bewältigt werden. Es braucht rasch eine von Regierung und Sozialpartnern getragene Offensive auf dem Arbeitsmarkt. Dazu hat die Arbeiterkammer ein ganzes Bündel an Maßnahmen ausgemacht:
Eine Qualifizierungsoffensive, um die Chancen der ArbeitnehmerInnen im Strukturwandel zu erhöhen. Ganz besonderes Augenmerk muss dabei auf junge Menschen und auf Frauen gerichtet werden. Eine Jobgarantie für Langzeitarbeitslose. Die dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf 70 Prozent Nettoersatzrate – das vermeidet Armut, sichert die Kaufkraft in den Regionen. Entscheidend ist auch ein personell gut ausgestattetes AMS, damit die Menschen rasch und gut vermittelt und betreut werden können. Gegen das Virus gibt es bereits Impfungen – gegen die hohe Arbeitslosigkeit wird es keine Impfung geben, daher brauchen wir dringend eine andere Therapie.
Access Guide Magazin: Leidtragende der aktuellen Krise sind nicht nur Menschen ohne Arbeit, sondern auch Menschen in systemrelevanten Berufen wie z.B. im Lebensmittelhandel oder in der Pflege. Was müsste getan werden, um deren Situation zu verbessern, wie könnte es zu einer gerechteren Entlohnung kommen?
Renate Anderl: Man gewinnt den Eindruck, manche wollten den Heldinnen und Helden der Krise ein Denkmal errichten – und das war es dann. Sie haben unser Land zusammen und am Laufen gehalten, sie verdienen mehr als ein Denkmal und Applaus. Sie brauchen gute Arbeitsbedingungen und faire Einkommen. Für die Arbeiterkammer ist außerdem eines absolut klar: Die Kosten der Krise dürfen nicht an den ArbeitnehmerInnen hängen bleiben – große Vermögen und Konzerne müssen gerechte Beiträge leisten. Nur so sind angemessene Gehälter in Gesundheit, Bildung und Kinderbetreuung möglich.
Manche sind ja erst jetzt, in dieser Krise draufgekommen, was alles an systemrelevanter Arbeit in Österreich geleistet wird. Diese systemrelevanten Bereiche sind aber so unterschiedlich, da gibt es keine Schablone. Die Arbeiterkammer hat ein Bündel an Vorschlägen – in der gebotenen Kürze möchte ich nur ein paar herausgreifen, die für alle wichtig sind: Die Umsetzung von 1.700 Euro Mindestlohn brutto/monatlich in den Kollektivverträgen. Besonders in systemrelevanten Tätigkeiten sollen die Erfahrungen mit Kurzarbeit für eine Verkürzung der Arbeitszeit genutzt werden, mit dem Ziel einer 35-Stundenwoche. Ein weiterer Punkt ist die leichtere Erreichbarkeit der 6. Urlaubswoche. Und um den Gesundheitsbereich als Beispiel heranzuziehen: Da soll durch Mindeststandards für die Berechnung der Personaleinsatz pro Dienst erhöht werden. Verlässliche Dienstpläne müssen Standard werden – das dauernde Einspringen ist eine enorme Belastung und ja ein Hauptgrund, warum Beschäftigte den Beruf verlassen.
Access Guide Magazin: Frauen zählen ebenfalls zu den Verliererinnen der Krise. Warum ist das so?
Renate Anderl: Jene, die schon vor der Krise zu den benachteiligten Gruppen gezählt haben – Frauen, Jugendliche, Menschen mit Migrationshintergrund oder prekär Beschäftigte – leiden besonders unter den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Krise. Viele haben aufgrund von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit weniger Einkommen zur Verfügung und sind von Armut bedroht. Von der Politik verlangt die Arbeiterkammer daher mehr Unterstützung für die Anliegen und Bedürfnisse von Frauen, denn die Corona-Krise darf nicht dazu führen, dass Frauen wieder vermehrt aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden als unbezahlte Kinderbetreuerinnen und Pflegerinnen tätig werden. Damit das nicht passiert, muss die existenzsichernde Beschäftigung von Frauen explizit gefördert und der Ausbau von Kinderbetreuung, Ganztagsschulen und der Pflegeangebote offensiv angegangen werden. Es ist auch dringend notwendig, Daten und Fakten geschlechtsspezifisch bereitzustellen – so weiß man in vielen Bereichen noch zu wenig, etwa wie es um die Nutzung von Kurzarbeit nach Geschlecht aussieht.
Access Guide Magazin: Vielfach wird die Krise als Chance für einen Wertewandel gesehen. Wie könnte eine Abkehr vom herrschenden Neoliberalismus möglich sein?
Renate Anderl: Gerade die gegenwärtige Krise hat eindrucksvoll gezeigt, dass die Rezepte des Neoliberalismus – wie Kapitalverkehrsfreiheit, Liberalisierungen und Deregulierungen – keineswegs automatisch zu mehr Wohlstand und Wirtschaftswachstum führen. Ganz im Gegenteil, sie haben vielfach strukturelle Probleme und höhere Krisenanfälligkeit geschaffen: durch grundlegende Verschlechterungen der Beschäftigungsstruktur – Stichwort Prekarisierung, durch das Aushöhlen wirtschaftspolitischer und sozialstaatlicher Handlungsmöglichkeiten und durch die zunehmende Ungleichheit. Die Covid-19-Pandemie hat auch die hohe Abhängigkeit von internationalen Liefer- und Wertschöpfungsketten – insbesondere in Bezug auf Medizinprodukte aus Drittstaaten – deutlich sichtbar gemacht. Umso wichtiger ist es, nun über die Covid-19-Krise hinaus die richtigen Konsequenzen zu ziehen.
Die Wirtschaft muss in den Dienst der Bewältigung der großen Herausforderungen unserer Zeit gestellt werden, von der Bekämpfung des Klimawandels und der Zügelung krisenanfälliger Finanzmärkte über die Schaffung globaler Steuergerechtigkeit und fairer Wettbewerbsbedingungen bis hin zur Sicherung ArbeitnehmerInnenrechte. Sozialen und ökologischen Zielen muss endlich Vorrang vor den Profitinteressen transnationaler Konzerne eingeräumt werden.
Access Guide Magazin: Braucht es eine neue Utopie für unsere Gesellschaft? Wenn ja, welche?
Renate Anderl: Es braucht ganz sicher einen Gesinnungs- und Wertewandel – indem der Sozialstaat gestärkt und weiterentwickelt wird und so die Lehren aus der Krise gezogen werden: Was bereits für die Finanz- und Wirtschaftskrise vor über zehn Jahren galt, hat die COVID-19-Pandemie neuerlich bestätigt: Länder mit hohen Sozialstandards und funktionierenden Sozialsystemen sind leistungsstärker und können auch mit Krisen besser umgehen. Daher braucht es unbedingt eine faire Verteilung der Krisenkosten und die Sicherstellung einer nachhaltigen Finanzierung des Sozialstaats – allen voran im Gesundheits- und Pensionssystem – sowie die Absicherung und Weiterentwicklung der bestehenden sozialstaatlichen Standards.
Wir brauchen ein klares Bekenntnis der EntscheidungsträgerInnen in Österreich zu einem starken und aktiven Sozialstaat, der den Menschen auch in schwierigen Zeiten und Lebenslagen Schutz bietet. Ein gut ausgebauter Sozialstaat und die Sozialpartnerschaft mit starken Interessensvertretungen der ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen wirkt sich auch auf die Leistungskraft der Wirtschaft sehr positiv aus. Gerade in Krisenzeiten ist die Wirkung des Sozialstaats als automatischer Stabilisator der Nachfrage – und damit der gesamten Wirtschaft – enorm wichtig.
Bild: AK Präsidentin Renate Anderl © Sebastian Philipp, BAK