Viele Menschen haben den Wunsch in ihrem Leben etwas zu ändern. Trotz hohen Leidensdrucks gelingt ihnen der Weg von der Ohnmacht zur Selbstermächtigung aber oft nicht. Die Kampfkunstmentorin Doris Nachtlberger unterstützt dabei, einen Lebenskampf in ein Potential für persönliche Weiterentwicklung zu wandeln.
Access Guide Magazin: Wie sind Sie Kampfkunstmentorin geworden?
Doris Nachtlberger: Meine Leidenschaft für asiatische Kampfkunst war schon in meiner Kindheit geweckt worden. Kampfkunst hat mir in bewegten Lebensphasen immer den nötigen Halt und Perspektive für den Augenblick geschenkt, wofür ich sehr dankbar bin, und weshalb ich nach wie vor täglich übe. Heute verfüge ich über 27 Jahre kontinuierliche Kampfkunstpraxis in unterschiedlichen Disziplinen und unterrichte die japanische Schwertkampfkunst Iaido/Iaijutsu und Shaolin Qi Gong. Vor ungefähr10 Jahren begann ich mich auch mit der professionellen Nutzung von Kampfkunst in der psychosozialen Arbeit mit Menschen zu befassen. Als langjährige Jugendrichterin war ich fast täglich mit Menschen konfrontiert, die auf unterschiedliche Weise im persönlichen Leiden feststeckten, und oftmals – trotz bester Absichten – es nur schwer oder oft gar nicht schafften, ihr Leben positiv zu verändern. Auf Basis meiner Ausbildungen zur Budopädagogin und -therapeutin, habe ich die Methode des Kampfkunstmentorings entwickelt, die es Menschen, die auf psychischer Ebene im Kreislauf der Gewalt gefangen sind – sei es als Täter oder Opfer – relativ rasch und auch nachhaltig ermöglicht, aus alten Verhaltens-, Fühl- und Denkmustern auszubrechen und das Leben eigenverantwortlich neu zu gestalten.
Access Guide Magazin: Was kann man sich darunter vorstellen?
Doris Nachtlberger: Kampfkunstmentoring ist eine individuell an Bedarf und Bedürfnisse angepasste Form von Empowerment und Resilienzförderung, die funktionale Wirkungen asiatischer Kampf- und Bewegungskünste auf Körper, Geist und Seele zielgerichtet nützt. Als Mentorin baue ich dabei für mein Klientel mithilfe einfacher Basiselemente aus z.B. Kung Fu, Stockkampf, Iaido, Tai chi und Qi Gong eine Brücke zur eigenen Kraft und Würde. Ich führe die Menschen behutsam an ihre Grenzen und motiviere sie, diese zu verlassen, wobei ich auch Weg und Werkzeug aufzeige und bei diesen Lernprozessen aktiv unterstütze. Das Ganze ist ein achtsamkeitsbasiertes Lernen über Bewegung, bei dem die Faktoren Haltung, Atmung und Fokus und auch die Befreiung blockierter Lebensenerigen wiederkehrend eine Rolle spielen. Erkenntnisse der Traumapädagogik fließen ein, ebenso wie Methoden der Stressregulation, Achtsamkeitsschulung und Embodiment. Kampfkunstmentoring findet in einem absolut geschützten, konstruktiv-spielerischen Einzelsetting zwischen 5 und 15 Stunden statt, was es selbst bei schweren Traumata ermöglicht, die verletzte Würde wieder zu aktivieren, aufzurichten und in Anspruch zu nehmen.
Access Guide Magazin: Für wen ist Kampfkunstmentoring geeignet?
Doris Nachtlberger: Das Angebot richtet sich vor allem an Menschen, die Gewalt erfahren haben. Unter Gewalt ist jede Form von Machtausübung, Machtmissbrauch, Verletzung oder Zwang zu verstehen. Das beinhaltet nicht nur körperliche und sexuelle Angriffe, sondern auch Psychoterror, Erniedrigung, Verbote und Isolation. Menschen, die durch Gewalterlebnisse in ihrer Lebensqualität und Handlungsfähigkeit beeinträchtigt sind und deren Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen geschwächt ist. Das Kampfkunstmentoring bietet aber ganz allgemein eine Möglichkeit, sich selbst wiederzufinden, sich neu zu entdecken und die eigenen, positiven Kräfte zu aktivieren. Es werden Lebensmut und Selbstwirksamkeit gestärkt, der konstruktive Umgang mit Konfrontationen geschult und die Handlungsfähigkeit für den Alltag erweitert. Es sind keinerlei Vorkenntnisse oder Fitness notwendig, jedoch die Bereitschaft, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und auch kleine Übungsaufgaben in den Alltag zu integrieren.
Access Guide Magazin: Gibt es geschlechtsspezifische Aspekte im Kampfkunstmentoring?
Doris Nachtlberger: Ja, denn Frauen fällt es meist schwerer, die Kräfte ihrer „inneren Kriegerin“ konstruktiv zu nützen. Das liegt nicht zuletzt an der seit Jahrhunderten kollektiv gesellschaftlichen Unterdrückung und Verletzung weiblicher Kräfte. Die Folge ist zumeist eine Schwäche im Umgang mit Konfrontationen, in der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse, aber auch im Umsetzen der eigenen Träume und Visionen. Diese Schwächung kann reaktiv aber auch zu einer Überbetonung der männlichen Anteile führen und zu einem Verlust der eigenen Mitte. In der asiatischen Kampfkunst sollen die polaren Urkräfte Yin und Yang aber auch innerhalb des Menschen – unabhängig vom biologischen Geschlecht – ihre Wirkung im harmonischen Wechselspiel voll entfalten dürfen. Das bedeutet Gesundheit und die Grundlage das eigene menschliche Potential entwickeln zu können, aber auch die Fähigkeit weise (konstruktiv) zu kämpfen, wenn es notwendig ist.
Wenn Frauen zum ersten Mal ein Schwert in der Hand halten, spüren sie sofort die Wirkung der Macht, die von dieser Waffe ausgeht. Ein Schwert zu führen ist mit der Identifikation einer Opferrolle nicht in Einklang zu bringen. Ähnliches gilt für den Gebrauch des Bogens. Dabei geht es um die Fähigkeit zu Fokussieren und die Kräfte in Ruhe und Klarheit zu aktivieren und bewusst wieder zu entspannen, aber auch um die bewusste Übernahme von Verantwortung, das Treffen von Entscheidungen und deren Umsetzung. Sowohl das Üben mit dem (Holz-) Schwert, als auch dem Bogen verlangt geradezu das Inanspruchnehmen der eigenen Würde, über die leibliche Ebene.
Access Guide Magazin: Wie sieht das Training bei gewaltbereiten, jungen Männern aus?
Doris Nachtlberger: Viele von ihnen haben schon früh gelernt, einfach zuzuschlagen, um emotional negative Energie loszuwerden. Dabei werden sie von ihren eigenen Mustern persönlicher Verletzung gesteuert, ohne dass es ihnen bewusst wäre. Um das Aggressivitätslevel dauerhaft zu senken, reicht es nicht, die überschüssige Energie am Sandsack abzubauen. Das erleichert nur situativ und festigt letztlich ein bereits vorhandenes neurobiologisches Zerstörungsnarrativ.
Empowerment bedeutet in diesem Zusammenhang, die Fähigkeit zu schulen, auch unter Hochstress nicht in die alten gewalttägigen Muster zurückzufallen, sondern innerlich Abstand zu nehmen und konstruktive Lösungen zu finden. Dabei ist es wesentlich, nicht nur die Stressoren selbst, sondern auch ihre Wirkung auf den Körper bewusstzumachen und steuern zu lernen. Emotionen sind machtvolle Energien, die über die Stressachse zu massiven Hormonausschüttungen führen. Oft genügen einfache Trigger, um den Kampfmodus zu aktivieren. Für gewaltbereite Männer geht es daher vorrangig darum, Stressregulation als Form der Selbstfürsorge zu erlernen und eine andere Perspektive der Kraft zu finden, sie in den Kontext der Achtsamkeit zu setzen – in der Ruhe liegt die Kraft! Der Transfer von Kampfkunst zur Lebenskunst braucht viel Hingabe und Mut – Verantwortung und Vertrauen.
Access Guide Magazin: Wie kann traditionelle Kampfkunst Menschen mit psychischen Erkrankungen helfen?
Doris Nachtlberger: Diese körper- und bewegungsorientierte Methode eignet sich gut zur komplementären Unterstützung in der Behandlung von traumabedingten Symptomatiken, bei Depressionen oder der Aufmerksamkeitsdefizit- oder Hyperaktivitätsstörung ADHS. Kampfkunstmentoring wirkt ganzheitlich und fördert die Wiederherstellung von Harmonie und Balance (in Körper-Seele-Geist), sowie die Auflösung von Blockaden. Es geht darum, einen Zugang zum eigene Potential zu ermöglichen und in die Eigenverantwortung zu führen. Dabei wird die psychische Widerstandsfähigkeit gefördert, damit es einem gelingt, konstruktiv mit Konfrontationen innerhalb jeder Lebensherausforderung umzugehen.
Access Guide Magazin: Wie läuft eine typische Übungsseinheit ab?
Doris Nachtlberger: Am Anfang und Ende jeder Einheit steht eine kurze Klangschalenmeditation mit kleinen Qi Gong-Übungen. Mithilfe einer guten Atmung und Aufrichtung der Haltung wird die Konzentration verbessert und die Energiezirkulation aktiviert. Es geht also darum, richtig atmen zu lernen und den eigenen Körper zu spüren. Das klingt einfach, ist es aber nicht für alle. Menschen mit Gewalt- und Missbrauchserfahrungen reagieren oft stark dissoziativ, d.h. sie trennen sich – gewohnheitsmäßig – von ihrem Körper, sobald dieser zum Thema wird. Solche Gewohnheiten zu durchbrechen, ist sehr schwierig und gelingt nur mit viel Einfühlungsvermögen, Geduld und Humor. Die Übungsstunden laufen immer sehr individuell ab, sind vom eigenen Prozess, als auch der jeweiligen Tagesverfassung bestimmt. Wir arbeiten an der Haltung-, Bewegungs und Atmungsmustern, deren Koordination mit Einzel- und Partnerübungen mit Stöcken, oder Holzschwertern.
Schlagübungen auf die Handpratze, oder Bewegungssequenzen aus dem Bereich der sanften Kamfpkünste wie Tai Chi. Für Frauen ist es oft sehr schwierig, ihre Kraft zu zuzulassen, weil sie ihre Kraft mit zerstörerischen Emotionen verknüpfen. Frauen tragen das „Lebensschöpfungs-Prinzip“ in sich und haben naturgemäß große Angst vor Zerstörung. Meist wurde ihnen aber auch ihr Leben lang eingeredet, dass sie sich nicht wehren dürften, dass dies falsch oder schlecht wäre, was natürlich völlig absurd ist! Im Kampfkunstmentoring arbeiten wir immer an den individuellen Grenzen und daran, sie zu erweitern. Wichtig ist dabei die Selbstbestimmtheit der Mentees, ihre eigenen Grenzen, den eigenen Prozess innerhalb der Übungen auch zu formulieren, und „STOP“, oder „NEIN“ sagen zu dürfen. Das ermöglicht den Weg von der Ohnmacht zur Selbstermächtigung. Es geht nicht darum, Leistung zu erbringen, oder etwas auszuhalten, sondern sich bewusst und achtsam einem „Selbst-Üben“ zu öffnen und im eigenen Tempo hinzugeben.
Access Guide Magazin: Vielen Dank für das Gespräch.