Das Bezirksmuseum Josefstadt zeigt ab 6. Mai 2021 die Sonderausstellung „Vor Schand und Noth gerettet?!“. Gezeigt wird die eindrucksvolle Geschichte der ehemaligen Institutionen im heutigen 8. und 9. Bezirk aus dem Blickwinkel der Geschlechter-, Sozial- und Medizingeschichte. Das Gebärhaus und das Findelhaus waren Institutionen für die Unterschicht und stellten einen damals modernen Versuch dar, mit einer großen Anzahl ungewollter Kinder umzugehen. „Mit ,Vor Schand und Noth gerettet`?! setzt das Bezirksmuseum Josefstadt die Reihe der Ausstellungen über historische und gegenwärtige Institutionen der Josefstadt fort. Neu ist die Unterstützung von Anna Jungmayr, Curatorial Fellow im Wien Museum“, sagt Maria Ettl, Leiterin des Bezirksmuseums Josefstadt.
Gründung des Gebärhauses als Teil des Allgemeinen Krankenhauses 1784
In der Gründungsschrift des Allgemeinen Krankenhauses unter Josef II. aus dem Jahr 1784 heißt es über das Gebärhaus: „Die öffentliche Vorsorge bietet durch dieses Haus geschwächten Personen einen allgemeinen Zufluchtsort an und nimmt, da sie die Mutter vor der Schand und Noth gerettet, zugleich das unschuldige Geschöpf in Schutz, dem diese das Leben geben soll.“ Die neue Sonderausstellung im Bezirksmuseum Josefstadt – deren Titel sich hinterfragend auf das Zitat bezieht – setzt sich mit der Lebenssituation jener Frauen auseinander, die ungewollt Mutter wurden oder keine Möglichkeit hatten, ihr Kind selbst großzuziehen. Vor allem arme, ledige und oft auch zugewanderte Frauen nutzten die Institution des Gebärhauses, um dort ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Sie waren durch ökonomische Zwänge und ein restriktives Eherecht in ihrem Handlungsspielraum stark eingeschränkt, verlässliche Verhütungsmittel gab es keine, Schwangerschaftsabbrüche standen unter Todesstrafe. Der Staat hatte bevölkerungspolitisches Interesse an Arbeitskräften und Soldaten.
Zwischen medizinischer Versorgung und Fremdbestimmung
„Aus einer frauen*- und geschlechtsgeschichtlichen Perspektive ziehen wir die Institutionen Wiener Gebärhaus und Wiener Findelhaus als historische Beispiele für den Umgang mit ungewollter Schwangerschaft heran. Dabei ist uns die Frage danach, welche und wessen Interessen dabei Relevanz hatten, sowie eine sensible Auseinandersetzung mit Frauen*biografien wichtig“, sagt Anna Jungmayr, Curatorial Fellow der Stabstelle Bezirksmuseen im Wien Museum, über die Ausstellung.
Während besser situierte Schwangere gegen Bezahlung im Gebärhaus viele Privilegien – wie beispielsweise ein privates Zimmer oder besseres Essen – genossen, spielten Intimität und Sensibilität im Umgang mit mittellosen Frauen wenig Rolle. Als „Unterrichtsmaterial“ der ausschließlich männlichen Studenten trugen sie maßgeblich zu medizinischen Errungenschaften bei. Greta Hubinger, Ärztin und Teil des Ausstellungsteams, schildert: „Das Gebärhaus nimmt in der Geschichte der Medizin Österreichs eine bedeutende Rolle ein. Das Gebärhaus und der geburtshilfliche Unterricht brachten wesentliche Errungenschaften im Bereich der Medizin.“ Operationstechniken wurden weiterentwickelt und der Chirurg und Geburtshelfer Ignaz Semmelweis fand Erklärungen für das Kindbettfieber. Dadurch erkannte er die Relevanz von Desinfektion.
Das Gebärhaus als Teil des Allgemeinen Krankenhauses stand in enger Verbindung mit dem Wiener Findelhaus, das ebenfalls 1784 gegründet wurde und sich ab 1788 in der Alserstraße 23 befand. Fast alle Kinder, die im Gebärhaus zur Welt gebracht wurden, wurden daraufhin ins nahe gelegenen Findelhaus gebracht. In der Zeit ihres Bestehens zwischen 1784 und 1910 nahm diese Institution rund 750.000 Kinder auf und vermittelte sie in weiterer Folge meistens innerhalb weniger Tage an Pflegeplätze aufs Land, wo sie häufig ein von Diskriminierung und harter Arbeit geprägtes Leben erwartete. In der Ausstellung werden einige Biografien solcher „Findelkinder“ exemplarisch für den Werdegang vieler Menschen beleuchtet. Verena Pawlowsky, Historikerin und wissenschaftliche Beraterin der Ausstellung zu den gesellschaftlichen Dimensionen: „In manchen Jahren des 19. Jahrhunderts ging ein Drittel der in Wien geborenen Kinder diesen Weg: von einer ledigen Frau zur Welt gebracht, im Wiener Findelhaus abgegeben. Viele Menschen stoßen noch heute oft auf ein solches Kind, ohne Familie‘ in ihrem Stammbaum.“
Auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte
Die im Gebärhaus geborenen Säuglinge wurden in der Pfarre Alser Vorstadt getauft, bevor sie ins Findelhaus gebracht wurden. Eine katholische Taufe galt als Voraussetzung für die Aufnahme eines Kindes im Findelhaus, was vor allem für jüdische Frauen eine Diskriminierung bedeutete. Die Taufen wurden in Taufbüchern protokolliert, die auch die Funktion von Geburtenbüchern erfüllten. 2015 wurden die Matriken der Pfarre Alser Vorstadt online zugänglich gemacht. In der Ausstellung „Vor Schand und Noth gerettet“?! Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt wird Besucher*innen die Möglichkeit gegeben, selbst familienhistorisches Forschen auszuprobieren.
„Das Interesse an der Erforschung der Geschichte der eigenen Familie nimmt infolge der Onlinestellung der Geburts-, Trauungs- und Sterbebücher rapid zu. Die Suche nach den bisher unbekannten Groß- oder Urgroßeltern und deren Schicksal führt in vielen Fällen in die Bestände der zuständigen Pfarre Alser Vorstadt und jene des Wiener Stadt- und Landesarchivs. Die Mütter der Findelkinder kamen nicht nur aus Wien und Niederösterreich, sondern auch aus Böhmen, Mähren und Ungarn“, sagt Leopold Strenn, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Familien- und regionalgeschichtliche Forschung.
Ende der Institutionen Gebär- und Findelhaus
In den über 100 Jahren ihres Bestehens erlebten das Gebärhaus und das Findelhaus zahlreiche Veränderungen. Nach ihrer institutionellen Abkoppelung vom Allgemeinen Krankenhaus im Jahr 1851 kamen Gebärhaus (1865) und Findelhaus (1868) in niederösterreichische Landesverwaltung („N.Ö. Landes- Findel- und Gebäranstalt“). Ihr Charakter änderte sich im Laufe der Zeit grundlegend – Begriffe wie Mutterliebe und Kinderrechte kamen in den öffentlichen Diskurs, das Kindeswohl stand verstärkt im Fokus. Mit der Trennung von Gebärhaus und Findelhaus 1909 und der Umwandlung und Übersiedelung des Findelhauses ins Landes-Zentralkinderheim Gersthof 1910 endete das Findelwesen. Der Grundstein für eine neue staatliche Kinder- und Jugendfürsorge war jedoch gelegt. 1910 wurde das Gebäude des ehemaligen Findelhauses abgerissen, das Gebäude des ehemaligen Gebärhauses gibt es noch. Die Ausstellung schließt mit einer Auseinandersetzung mit der Situation von Frauen im Hinblick auf Selbstbestimmung und reproduktive Rechte in der Gegenwart.
Anhand von rund 100 historischen Objekten, dreidimensionalen Grafiken und Reproduktionen aus über 20 wissenschaftlichen Institutionen, wie etwa den Josephinum-Sammlungen der Medizinischen Universität Wien, dem Niederösterreichische Landesarchiv, dem Wiener Stadt- und Landesarchiv und dem Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, setzt sich die Ausstellung mit den ehemaligen Einrichtungen im heutigen 8. und 9. Bezirk auseinander.
Historische Fotos und Gemälde, Schriftdokumente, Zeitungsartikel, geburtsmedizinische Geräte sowie etwa die Ausstattung von Hebammen werden gezeigt. Die für die Ausstellung von den Musiker*innen Martin Spengler und Manuela Diem neu interpretierten Wiener „Findelkind-Lieder“ sind an einer Audio-Station zu hören. Im Herbst 2021 erscheint eine umfangreiche Publikation. Ein vielschichtiges Rahmenprogramm begleitet die Laufzeit der Sonderausstellung (stets aktuell nach den jeweiligen Corona-Regelungen unter Bezirksmuseum). Ab 8. Juni wird im Bezirksmuseum Josefstadt außerdem eine Adaption der Kunstintervention Changing Cabinet aus dem Tröpferlbadraum des Bezirksmuseums Wieden zu sehen sein.
Bild: Carl Pippich: 1080, Alser Straße – niederösterreichisches Findelhaus, 1880-1890 © Wien Museum