Offen für kleine Momente

Barbara Kenneweg © Gerald von Foris

Sie hat genug von Ignoranz, Inhumanität und genormten Lebensformen, und so geht Rosa Lux in die Isolation, ohne Internet, fast ohne Kontakt. Barbara Kennewegs Romandebüt ist eine Reflexion über Einsamkeit, Glück und das, was jede Generation und jeder einzelne immer neu denken muss.

Barbara Kennewegs Protagonistin will nicht mehr mitspielen und zieht einen radikalen Schlussstrich: Rosa Lux trennt sich von ihrem Freund und kauft vom Erbe der Mutter das „Haus für eine Person“, 55 Quadratmeter im Osten Berlins. Sie zieht sich in ein Stadtviertel zurück, in dem keine jungen Erwachsenen und keine Kinder wohnen, nur ein paar Alte und eine Katze, „eingekeilt zwischen Nachwende-und Kriegsgerümpel“. Sie will allein sein, will kein Internet, mag keine E-Mails mehr schreiben, nicht telefonieren, hat genug vom Dauergerede und seiner Bedeutungslosigkeit, klinkt sich aus einer Welt aus, die sie nicht ändern kann. „Große Dinge geschehen, während ich vor meinem verträumten Eigenheim in der Sonne sitze und eine Tasse Fair-Trade-Kaffee trinke, einen staubigen roten Wälzer im Schoß, den nie jemand gelesen hat.“ Der Wälzer ist „Das Kapital“, eine Hinterlassenschaft des früheren Hausbesitzers. Auch Rosa Lux liest das Werk von Karl Marx nicht. Barbara Kenneweg lässt sie aber grübeln über Politik, Ökonomie und ihre eigene „milde Form des Wahnsinns“. Und sie lässt sie ihrer 98-jährigen Nachbarin begegnen, einer Frau, „die fünf Kinder in drei politischen Systemen großgezogen hat“, die die Nazi-Diktatur, Vergewaltigung durch russische Soldaten, den Zweiten Weltkrieg und die DDR überlebt hat, die zu alt ist, um den Alltag allein bewältigen zu können, und doch positiv gestimmt.

In Begegnungen mit ihr, in wenigen Sätzen nur entwirft Barbara Kenneweg Gegenbilder zu den Nachkriegsgenerationen, die sich in Sicherheit und Wohlstand verloren oder erst gar nicht gefunden haben. „Die meisten Menschen meines Alters, die ich bisher getroffen habe, waren Egomanen, Monster, unfähig, etwas für andere zu tun, es sei denn, es winkt sofortige Belohnung“, denkt Rosa Lux und meint damit auch sich selbst. Dem hält Barbara Kenneweg Geschichten von Menschen entgegen, die mit dem Leben, sogar mit Katastrophen zurechtkamen, weil sie auf andere zugegangen sind, sich umeinander kümmerten. Wenn Rosa Lux über sie staunt, hat das nichts von den Glücksrezepten der Ratgeberliteratur. Ihr Gedankenstrom ist weit entfernt von Kitsch und alles andere als naiv: ein innerer Monolog, der immer wieder zum kritischen Essayroman wird, Schattenseiten nicht ausblendet und doch dem Leben, der Hoffnung Raum gibt.

Natur als Gegenort

Dieser positive Ton ist nicht nur den Begegnungen mit der Nachbarin geschuldet. Er rührt auch daher, dass Rosa Lux schwanger ist. Zum Ekel an einer Menschheit, die weder klug noch human ist, kommen mit einem Mal neue Eindrücke und Empfindungen hinzu. Den Duft von Blumen nimmt sie wahr. Eine Amsel. Einen Grashalm. Die Natur erscheint ihr, wie auch Rosa Luxemburg es in Briefen aus dem Gefängnis beschrieb, als Rückzugsort, den Menschen zerstören, den sie aber nicht zurichten können. Die kleinen, schlichten Eindrücke heben das Dunkle, das Schlechte nicht auf und machen für Rosa Lux doch einen Unterschied: Barbara Kenneweg bleibt konsequent komplex. Ihre Protagonistin entscheidet sich gegen die Abtreibung, setzt sich aber kritisch mit der Mutterrolle auseinander. Sie empfindet Glück, aber ohne die Welt aus den Augen zu verlieren, die sie ihrem Kind eigentlich nicht zumuten will: „Ich sehe mein Kind in einer gespaltenen Gesellschaft, deren Mehrheit an der Armutsgrenze lebt. In einer zerfallenden Europäischen Gemeinschaft. Auf einem erkalteten Kontinent ohne Golf-strom, in einer Tundra, Pampa, aus der Menschen in Horden fliehen, aber nicht in den Süden, denn da ist Wüste.“ Dann aber überlegt sie wieder, ob ihr Verstehenwollen, ihr dauerndes Grübeln eine Art ist, das Leben zu vermeiden.

„Mein Kopf erschafft keinen Grashalm“, denkt sie, lässt die Natur auf sich wirken und erlebt wieder Momente des Glücks – trotz ihrer einsamen, fragilen Schwangerschaft: Sie spricht fast mit niemandem und bereitet sich nur halbherzig auf die Geburt vor. Ein Plädoyer für Mutterschaft ist „Haus für eine Person“ nicht, schon gar nicht dafür, die Welt durch die rosafarbene Brille zu sehen. Der leise, intensive Roman plädiert für nichts, höchstens dafür, offen zu sein für kleine Momente, Begegnungen, für eine Poesie des Alltags, dafür, die Welt in allen ihren Facetten zu sehen, schwarz, weiß und bunt. Er ist eine Reflexion über den Sinn des Lebens, ein Nachdenken, das nach dem sucht, was das 21. Jahrhundert lautstark verspricht und nachhaltig verhindert: Individualität und Freiheit.