Versöhnliche Vielfalt

michla ghisetti afua triptychonzweiter teil 2012 c michela ghisetti

Superrealistische, übergroße Porträts mit Buntstift auf Holz gezeichnet oder explodierender Farbenrausch auf Karton: Das Werk von Michela Ghisetti bewegt sich spielerisch zwischen den Polen der Abstraktion und der Figuration. Die Frau und ihre gesellschaftlich bedingten Rollen werden dabei aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. In die Arbeiten der 1966 im italienischen Bergamo geborenen Künstlerin fließen biografisch-emotionale und philosophisch- kunsttheoretische Elemente ineinander. So entstehen konzeptuell strenge, humorvolle und intuitive Werkgruppen, in denen Ghisetti stets neue Inhalte und unterschiedlichste Materialien erprobt und deren Grundlagen hinterfragt. In der Albertina ist aktuell die erste umfassende Werkschau der Künstlerin zu sehen.

Bei ihrer Auseinandersetzung mit alten und neuen Malern wie Jan Vermeer oder Gerhard Richter nimmt Ghisetti selbst die Rolle der Porträtierten ein und zeigt sich einmal als „Mädchen mit dem Perlenohrring“ oder auch als Richters Tochter „Betty“. So zeichnet sich Ghisetti in die Kunstgeschichte ein ‒ ein Unterfangen, das insofern als feministischer Akt verstanden werden kann, als Werke von Künstlerinnen lange Zeit kaum in die Sphären der höheren Kunst aufgenommen wurden. Seit 2005 widmet sich Michela Ghisetti der auch heute noch nicht abgeschlossenen Serie „Verrutschte Frisuren“. Es handelt sich um eine Neuinterpretation von Gustave Courbets „Der Ursprung der Welt“ von 1866, der expliziten Darstellung einer Vulva unter Aussparung von Kopf und Füßen der Frau ‒ eines Werks, das von Anbeginn an Diskussion auslöste. Ghisetti deutet die ursprünglich voyeuristische Ansicht durch die humorvolle Verwendung von Schamhaarperücken auf spielerisch feministische Weise neu und verweist auf die Vielfalt weiblicher Sexualität. Die insgesamt 54 Arbeiten der Ausstellung stammen aus fast zwei Jahrzehnten. Von Anfang an bevorzugt Ghisetti Papier als Bildträger und arbeitet mit seinen jeweiligen Qualitäten ‒ vom transparenten Japanpapier bis zu den Kartons der jüngst entstandenen Werke. Ob weiß oder farbig, der Mal- oder Zeichengrund übernimmt auch inhaltliche Aspekte und trägt wesentlich zum Gesamteindruck der Arbeiten bei. Zudem finden Beobachtung und Reflexion des Bewegungsablaufs im Gestaltungsprozess ihren Niederschlag, wobei Material und Größe des Bildträgers wesentlichen Einfluss haben.

ghisetti unus mundus 1

UNUS MUNDUS, 2019, Zwei Ketten aus Glasperlen © Michela Ghisetti, Foto © Karin Hackl

In der 2016 begonnenen Serie „Tutto“ erobern Punkte und Kreise die gesamte Bildfläche: Kleine und große Tupfen entfalten ein Universum der Unendlichkeit, in dem die Vision eines versöhnlichen Nebeneinanders unterschiedlichster Farben, Formen und Größen zu einem politischen Statement wird, das zu einem respektvollen Leben inmitten der Vielfalt aufruft. Im Fall von „In Whose Watery Vastness Life Began“ explodiert nicht nur das Format, sondern auch inhaltlich wird dem Punkt als mystisches Symbol für die Quelle aller Dinge durch den Titel noch das Wasser als Metapher für den Ursprung des Lebens wie das uns mitbestimmende Unterbewusstsein hinzugefügt. Die raumfüllende Skulptur Unus Mundus besteht aus zwei Ketten, eine aus schwarz getupften, die andere aus blasstürkisen Glaskugeln. Komplementär konzipiert, berühren und überlappen sie einander. Auch mit dieser Arbeit will Ghisetti die Notwendigkeit der Integration scheinbarer Gegensätze sowie des Zulassens von Diversität aufzeigen. Che Bambole! ist eine heiter sich austauschende Gruppe von zehn Puppen, wie Ghisetti sie nennt. Jede hat ihren eigenen Namen und ihren eigenen Charakter und Aufbau. Und dennoch bilden sie eine Gemeinschaft, sind eine Einheit. Ghisetti verbrachte längere Zeit in Afrika, wo sie von Skulpturen der Stammeskunst inspiriert wurde. Die Serie kreist um das Thema der Würdigung weiblicher Vielfalt, für die hier die aus den unterschiedlichsten Materialien komponierten Puppen stehen. Gerade auch in unserer von der Pandemie geprägten Zeit werden besonders die jüngsten Werke Michela Ghisettis zu einem Aufruf, sich als Teil eines Ganzen zu verstehen und Verantwortung für die Erde und die Gesellschaft zu übernehmen.

michela ghisetti felicia 2010 c michela ghisetti

FELICIA, 2010, Buntstift auf Holz, ALBERTINA, Wien © Michela Ghisetti

Auf Basis einer Fotografie entschied sich Ghisetti im Fall von Felicia für einen monumentalen Close-up-Ausschnitt und eroberte mit intellektueller Strenge, Disziplin und körperlichem Einsatz die Malfläche des hölzernen Bildträgers mit Buntstiften. Das Haar ist ein zentrales Motiv ihrer Arbeit und steht als Metapher für die komplexe Präsenz der Frau in der Gesellschaft und ihre Rollenbilder. Hier wird es zu farbigen Strichbündeln. Die Linien reißen die Oberfläche auf und graben sich in den Malgrund. Durch die Furchen, welche die Farbstifte im Zeichenprozess in das Holz gezogen haben, verwandelt sich das Haar zu einem abstrakten Liniengeflecht. Michela Ghisettis Triptychon Afua ‒ Afua/Der Weg ‒ Maximum (Bild ganz oben: AFUA/DER WEG, 2012, Farbstift auf Holz, ALBERTINA, Wien © Michela Ghisetti) verhandelt nicht nur genderspezifische Aspekte der Präsentation und Repräsentation der Frau in der heutigen Gesellschaft, sondern auch das globale Geschehen immer mehr bestimmende Fragen der Integration und Diversität. In ihrer Auslotung der Extreme zeigt die Arbeit unterschiedliche Möglichkeiten zeitgenössischer Kunstproduktion auf. Ihre Monumentalität ist gleichsam als Appell zu verstehen, der Frau in der gesellschaftlichen Wahrnehmung mehr Bedeutung, Raum und Sichtbarkeit einzuräumen. So zeichnen die drei Teile des Triptychons einen Weg nach, der mit „Etwas-ans-Licht-Bringen“ umschrieben werden kann: Während die Dargestellte, Afua, sich im ersten Teil des Triptychons dem Blick des Betrachters stellt, verweigert sie sich diesem im zweiten Teil durch die Drehung des Kopfes und die Konzentration auf das Licht, das im dritten Teil durch die flächendeckende Blattgoldauflage dargestellt wird. Gold ist für die Künstlerin Versinnbildlichung von maximalem Licht und maximaler Abstraktion und steht für eine durch Diversität geprägte Zukunft. Die Ausstellung ist noch bis 20. März in der Pfeilerhalle der Albertina zu sehen.