Sehen und gesehen werden

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Vor mehr als zehn Jahren lud Marina Abramović ins New Yorker Museum of Modern Art zu einer Performance: Die Künstlerin saß schweigend an einem Tisch und hielt zu jedem Besucher, der ihr gegenüber Platz nahm, eine Minute lang Blickkontak, ohne dabei Emotionen zu zeigen. Als sie aber in die Augen eines grauhaarigen Mannes blickt, kommen ihr die Tränen. Der Mann ist Ulay und war von 1975 bis 1988 Lebens- und Kunstpartner von Abramović. Die beiden hatten sich 22 Jahre lang nicht gesehen. Der intensive Blickkontakt rührte auch einige Zuschauer zu Tränen. Denn intensive Blicke wecken Gefühle, positiv oder negativ. Die Redaktion des Access Guide Magazins hat sich im März dem Wechselspiel von Blicken und Gefühlen gewidmet:

Wrexer* schreibt: „Blicke, die töten können. Blicke die aufmuntern oder erfreuen. Blicke in den Abgrund. Ein Blick in die Zukunft. Ein Blick in die Vergangenheit. Ein Blick auf die Gegenwart. Wir alle kennen diese Blicke. Jeder reagiert auf diese anders. Ich reagiere auf viele Blicke. Ich überreagiere auch. Wenn ich in einer depressiven Episode stecke, ist es am schlimmsten. Dann sehe ich Unmut, Verrat und Wut – überall. Aber nicht von mir ausgehend, sondern mir entgegenschwappend. Es ist furchtbar, wenn man keinen klaren Gedanken fassen und sich nicht mal an die wichtigsten Menschen wenden kann.

Meine Augen sehen auch viel Fehlverhalten, das von meinem Hirn als solches stark wahrgenommen werden. Rechtschreibfehler, Menschen die nicht einparken können, Eltern die ihre Kinder in der U-Bahn anschreien, Jugendliche die sich nicht benehmen können.

Ich sehe auch Krankheiten. Natürlich sieht jeder, wenn ein Anderer Fieber hat – glasige Augen, etwas bleich im Gesicht und schwach. Aber ich sehe auch psychische Erkrankungen. Ich habe ein gutes Gespür für Menschen. Ich analysiere, wie sie mir gegenübertreten. Ich bewerte, wie sie sich mir gegenüber verhalten. Und wenn das Verhalten von der „Norm“ abweicht, sehe ich Schmerz, ich sehe Lüge, ich sehe Verzweiflung. Und diese Sicht, schränkt mich ein. Ich gehe sofort in die Verteidigung, halte mich bedeckt, um diese Abweichung nicht noch weiter zu provozieren.

Aber was ist der Grund für die Abweichung? DAS kann ich nicht sehen. Das könnte ich höchstens nur hören, wenn es mir die betreffende Person sagt. Aber ob die Worte, die den Mund verlassen auch zu dem Bild passen, dass sich mir gegeben hat? Meistens nicht. Und ich verstehe es. Wenn es mir schlecht geht, will ich andere auch nicht über alle Maßen beunruhigen. Aber für mich ist das nicht gut. Weil ich das sofort erkennen und sehen kann.

Meine Augen sind an Abweichungen gewöhnt. Es ist die Gewohnheit der Kindheit, wenn die Mutter mal wieder betrunken sagt, dass sie den Streit am Vortag bereut und es ihr leid täte. Nur um ein paar Stunden später wieder einen Streit anzufangen. Ich sehe, dass es ihr leidtut. Aber sie tut nichts dagegen. Und ihre Augen sehen nicht, wie sehr mir das zugesetzt hat. Ihre Augen können nicht das sehen, was ich sehe. Ihre Augen sehen nicht, welchen Menschen meine Kindheit aus mir gemacht hat.

Ich sehe Schmerz, überall. Aber ich sehe auch Freude, wenn auch wesentlich weniger. Ich sehe die glänzenden Augen, wenn mir mein bester Freund von seinem zwei Monate alten Sohn erzählt. Ich sehe, wie meine beste Freundin von ihrer Tochter erzählt. Und diese Menschen sehen auch die seltenen Momente, wenn meine Augen glänzen. Aber das passiert nicht oft. Meistens, wenn ich mit den Kindern spiele oder zu tun habe.

Meine Augen beobachten. Meine Augen beobachten das Größerwerden der Kindern meiner besten Freunde. Meine Augen leuchten förmlich auf, wenn ich meine Erbse, meine Fee oder meine Chaotin sehe. Sie leuchten wenn sich die Kinder freuen, mich zu sehen. Wenn sie auf mich zu laufen und mir in die Arme springen.

Meine Augen sind gut trainiert, ich erkenne gewisse Dinge einfach schneller als andere. Aber dieser Skill bringt mir nichts, wenn es darum geht, in den Abgrund meines Seins zu sehen. Zu schauen, wie groß der Berg an Trauer und Schmerz in mir ist. Es ist zuviel und ich will es eigentlich nicht sehen. Aber ich sollte es sehen können, um den Berg auch mal abarbeiten zu können. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte mir selbst in die Augen zu schauen. Aber nicht über einen Spiegel, sondern so, wie ich anderen in die Augen sehe. Bis zum Kern der Seele“.

Unter Beobachtung

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Bild: StockSnap auf Pixapay

Toni* ist es gewohnt, wenn andere Menschen ihn anschauen: „2015 habe ich mit Poetry Slam begonnen. Da ich als Dialekt-Rapper schon einige Bühnenerfahrungen sammeln konnte, war ich ziemlich sicher, dass mir das auch aufgrund meines lyrischen Talents gut gelingen würde. Natürlich war ich darauf aus, so viele Podiumsplätze wie möglich zu ergattern und auch zu gewinnen. Mein erster Poetry Slam war im Ritz am Gürtel. Ich wurde direkt als erster gezogen und war somit der erste Slammer dieses Abends. Ich habe einen Text performed, in dem es um den Kampf gegen meine Alkoholsucht ging. Eine sehr emotionale Geschichte eines Säufers welcher versucht wieder auf einen grünen Zweig mit sich selbst zu kommen. Die meisten Leute waren schockiert. Wie kann man nur auf die Bühne gehen und das Publikum mit so einer Story belästigen?, dachten sich die Menschen. Das war mein Eindruck. Bei diesem Slam wurde ich nur Sechster oder Siebenter.

Es war unheimlich enttäuschend weil ich mit Sicherheit einen der besten Texte des Abends präsentiert hatte. Leider merkte ich, dass meine Geschichte für die Jury und die Zuschauer zu schlimm war. Dieses von mir vermittelte Leid konnten sie nicht ertragen. Ich sah es in ihren Blicken, die  aus Scham von mir auswichen. Ein wirklich sehr enttäuschender Auftritt. Später wollten meine Freunde, die ich erst seit einem Jahr kannte eine Show von mir erleben. Da ich aufgehört hatte zu rappen und somit auch nicht gebucht wurde, blieb mir nichts anderes übrig als es nochmal mit Poetry Slam zu versuchen. Dieser fand im oberen Stockwerk des Fluc statt. Die Creme de la Creme der Slammer war anwesend und auch im Line up vertreten. Ich wurde als letzter gelost. Das ist auf jeden Fall der beste Platz, denn man hatte vor mir schon alle anderen gehört und man konnte gut einschätzen auf welchem Niveau meine Texte sind.

Nach der ersten Runde belegte ich den ersten Platz und war im Finale gelandet. Somit habe ich eine ganze Reihe von erfahrenen Slammern besiegt. Das machte natürlich großen Eindruck. Man sah in den Gesichtern der Jury und des Publikums, dass die Begeisterung über meine Performance enorm war. Also begann ich das Finale mit einem lockeren Witz um die Stimmung etwas zu lockern. Dieser kam sehr gut an. Das gab mir die Selbstsicherheit die ich brauchte um das Finale erfolgreich zu bestreiten und meinen Text so zu präsentieren, dass die Freude in den Gesichtern der Anwesenden mich so gut fühlen ließen, dass ich den Sieg rein psychologisch schon eingefahren hatte. Andere mit meiner Lyrik so zu begeistern ist wohl der größte Erfolg.

Letzendlich belegte ich bei meinem 2. Poetry Slam den 1. Platz und war überglücklich. Ich werde nie vergessen wie die Augen meiner Freunde funkelten, als ich grinsend von der Bühne ging und sie umarmte. Diese Erfahrung trieb mich dazu weitere Poetry Slams zu besuchen und etliche Podiumsplätze zu belegen. Immer wieder war ich in den Top 3 vertreten. Natürlich gab es auch Blicke der Missgunst und des Neids. Doch diese bestätigten nur meine Leistung“.

Die Blicke der Anderen

Hope* erzählt: „Ich bemerke, wie Schweiß von meiner Stirn tropft, weil ich mich unwohl fühle. Unwohl wegen der Blicke des Mannes auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der mich seit mehr als zehn Minuten beobachtet, während ich vor der Psychotherapiepraxis auf meinen 13 Uhr Termin warte, um diesen wahrzunehmen. Er mustert mich von oben bis unten, ja es fühlt sich so an als würde er mich förmlich mit seinen Blicken ausziehen. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Vielleicht gefällt ihm nicht wie ich aussehe oder er fragt sich, was ich hier tue, da ich wirklich einfach nur hier stehe mit meinem Buch in der Hand und gefühlt jede Minute auf die Uhr starre.

Auch er zückt hin und wieder sein Handy hervor. Beim Anzünden meiner Zigarette, spüre ich immer noch die unangenehmen Blicke. Habe nämlich versucht mich etwas versteckter hinzustellen. Anscheinend ist dies in die Hose gegangen, da ich immer noch beobachtet werde. Einen Zug noch und dann gehe ich hoch, in zwei Minuten startet sowieso mein Termin. Ich gehe zur Eingangstür, läute an. Plötzlich steht der Beobachter hinter mir, die Tür geht auf und eine Frau kommt raus. Wie sich herausstellte, hatte er nicht wirklich mich beobachtet, sondern die Eingangstür vor der ich stand“.

Verfolgt und ausgetrickst

Jenny* erinnert sich an ein Ereignis, das noch gar nicht so lange her ist: „Als ich vorigen Donnerstag mit den Hunden spazieren war, ist mir etwas sehr Unangenehmes passiert. Da hat mich so ein seltsamer Mann angestarrt, das war mir schon sehr lästig und ich muss immer noch daran denken. Dieser Mann war sehr eigenartig muss ich mal sagen, weil er sprach mich an und hat gefragt, wie es mir geht und ob ich ihm helfen könnte, weil er Probleme mit seiner Freundin hätte und sie würde ihn angeblich nicht in die Wohnung lassen. Ich habe die ganze Zeit überlegt, ob ich ihm sagen soll, dass mich das ganze mehr oder weniger gar nicht interessiert. Aber gleichzeitig war ich die ganze Zeit in meine Panik vertieft und ich habe mir nichts zu sagen getraut. Dieser Mann hätte wer weiß wie reagieren können weil er schon immer Probleme bereitet hatte in seinem Leben. Schon im vorigen Sommer gab es viele Probleme mit ihm und seine Freundin machte dann die ganzen Hilfeschreie, weil er sie geschlagen hat, denke ich einmal, aber so genau weiß ich’s nicht.

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Denn dieser Mann ist ein Junkie, das hat man ihm auch angemerkt. Er hat auch von seinen angeblichen Krankheiten gesprochen was mir ebenfalls egal war. Als ich einfach weiter gehen wollte, hat er mich daran gehindert. Er hat gemeint: ,bitte bleib da!’ Und ich hab’ die ganze Zeit gesagt, dass ich weiter muss. Er darauf: ,Wenn du weiter musst, dann mit mir’. Wie er das gesagt hat, bin ich voll in Panik geraten und hatte überhaupt keine Ahnung was ich machen soll aber zum Glück ist dann jemand gekommen, den ich vom Spaziergehen kannte und ich habe den um Hilfe gebeten, und er hat dann gefragt, was los sei. Mein Bekannter hat dann voll auf den seltsamen Mann eingeredet und hat gesagt: ,Was willst du von diesem armen Mädchen und so weiter und ich denke mir nur so ,Bitte lass mich ihn Ruhe! Wo bin ich bitte arm? Ich habe alles, was ich brauche. Der Mann droht dann auch noch mit der Polizei und das hat mir Angst bereitet … aber zu guter Letzt bin ich mit diesem einen netten Mann mitgegangen und dann am Ende sah ich diesen anderen bekloppten Typen vor der Gragentür stehen wo ich wohne. Das war mir nicht geheuer, aber sobald ich ihn gesehen habe, bin ich einen Umweg gegangen und von hinten rum zu mir heimgegangen. Das war leider ein sehr schlimmer Tag und auch ein schlimmes Erlebnis für mich!“

*Wrexer, Toni und Jenny (Namen geändert) sind Teilnehmer von Eranos, einem Projekt zur beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen