Die Ausstellung „Augenblick! Straßenfotografie in Wien“ präsentiert einen Querschnitt durch die Geschichte der Wiener „Street Photography“. Im Zentrum der Schau im Wien Museum MUSA steht der Blick auf die sich verändernde Großstadt und das Leben auf Wiens Straßen von den 1860er Jahren bis heute. Das rasant wachsende Wien des späten 19. Jahrhunderts unterscheidet sich grundlegend vom Wien der Zwischenkriegszeit, das durch die Politik des „Roten Wien“ geprägt war. Das sich vom Trauma des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs erholende Wien der Nachkriegszeit ist abzugrenzen vom Wien der letzten drei Jahrzehnte, als die Stadt nach 1989 von der Peripherie Westeuropas ins Zentrum Mitteleuropas rückte und neuerlich rasant anwuchs.
Neben ikonischen Bildern der Stadt, die entscheidende Augenblicke des urbanen Lebens festhalten, werden zahlreiche noch nie ausgestellte und veröffentlichte Aufnahmen präsentiert, die den Alltag Wiens und das Leben seiner Bewohner*innen auf faszinierende Weise lebendig werden lassen: Eindrucksvolle Straßenszenen, intime Schnappschüsse und flüchtige Momentaufnahmen des städtischen Lebens. Es gehört zu den Eigenheiten der Fotografie, dass der fixierte Augenblick nicht nur das zeigt, was die Fotograf*innen festhalten wollten, sondern dass sich immer wieder Unerwartetes ins Bild schleicht: Die rasche Bewegung eines Verkehrsmittels, Passant*innen, die sich schattenhaft ins Bild schieben oder ein Gesicht in Großaufnahme. Während die Fotograf*innen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts diese „Bildstörungen“ wohl oder übel in Kauf nahmen, lieferte der gewollte Zufall manchen künstlerisch orientierten Straßenfotograf*innen des späteren 20. Jahrhunderts faszinierende Motive der Stadtfotografie.
Die Ausstellung zeigt, wie sehr das Medium der Fotografie an der Ausgestaltung und Verbreitung neuer Stadtbilder beteiligt war. Ganz nebenbei erzählen die Bilder aber auch die Geschichte einer sich rasant verändernden Großstadt. Sie fangen die Hektik und Betriebsamkeit auf Straßen, Plätzen und Märkten ein, halten unerwartete Begegnungen fest und dokumentieren Momente der Entschleunigung und des Vergnügens. Der Großteil der ausgestellten Arbeiten stammt aus den Sammlungen des Wien Museums, das mit diesem Projekt zum ersten Mal seine große Fotosammlung in ihrer ganzen Breite vorstellt. Ergänzt wird dieser Kernbestand durch Werke aus anderen nationalen und internationalen Fotosammlungen.
Insgesamt zeichnet die Ausstellung ein neues Porträt der Donaumetropole und lädt zu einer aufregenden fotografischen Entdeckungsreise ein, die von der frühen Stadtfotografie bis zur Instagram-Ästhetik der Gegenwart führt. In der Schau vertreten sind namhafte Fotograf*innen wie Ernst Haas, Franz Hubmann, Erich Lessing, Emil Mayer, Elfriede Mejchar, Barbara Pflaum, August Stauda, Edith Suschitzky (Tudor-Hart) und viele mehr.
Unterwegs in der Großstadt: Hasten, schreiten, gehen, flanieren. Die Großstadt kennt eine Vielzahl von Tempos, sich zu Fuß durch die Straßen zu bewegen. Wien gilt – verglichen mit anderen Metropolen – als „langsame“ Stadt. Und dennoch haben die Schübe der technischen Modernisierung und der Beschleunigung deutliche Spuren in den Stadtbildern hinterlassen. In manchen Fotos liegen urbane Hektik und gemütliche Fortbewegung ganz nahe beieinander. Während die Stadtfotografie bis nach der Wende zum 20. Jahrhundert gerne den großen Überblick suchte und die Straße als Bühne sah, auf der sich Passant*innen und Fahrzeuge tummelten, wandten sich die Fotograf*innen im 20. Jahrhundert kleineren Szenen zu. Sie zerlegten das Leben auf der Straße in Aus- und Anschnitte oder fingen Momentaufnahmen ein, die ihnen der Zufall diktierte.
Schauen und Staunen: Flüchtige und sich kreuzende Blicke von Passant*innen, Schaufenster, die besichtigt, Waren, die taxiert werden: Die Stadt ist ein Ort des Schauens. Die Straßenfotografie fängt ganz unterschiedliche Blicke ein – kollektive, die auf ein Ereignis gerichtet sind, aber auch individuelle und sogar intime. Der Wiener Stadtfotograf Emil Mayer war einer der Ersten, der um 1900 mit seiner (versteckten) Kamera systematisch die Blicke und Gesten auf der Straße erforschte. Die fotografischen Beobachtungen der Nachkriegszeit berichten von ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Stimmungen. Ernst Haas hielt die gebannte Erwartung den Kriegsheimkehrern gegenüber fest, Erich Lessing und Heinrich Steinfest den Taumel des Fußballpublikums.
Geschäft und Geschäftigkeit: Der Straßenhandel hat die Wien-Bilder nachhaltig geprägt. Insbesondere der Naschmarkt eignete sich immer wieder vorzüglich als fotografische Projektionsfläche für populäre Images der Stadt. In der Wiener Straßenfotografie seit 1900 wurde dieses überschaubare Marktgeschehen zum beruhigenden Gegenbild einer sich rasant verändernden Metropole. Märkte sind in der Straßenfotografie oft Bühnenräume für klischeehaft gezeichnete Figuren. Die „dicke Marktfrau“ etwa, die um 1900 in den Fotoserien von Moriz Nähr auftauchte, kehrte in den 1950er und 1960er Jahren in den Bildern von Franz Hubmann, Heinrich Steinfest oder Wolfgang Hamerschlag zurück. Neuerlich wurden dem modernen Wien vertraute, oft auch nostalgisch angehauchte Szenen gegenübergestellt.
Schriften, Bilder, Zeichen: Odol, Kunerol-Speisefett, Ideal-Schreibmaschinen und Schichtseife: Die Straße, so brachte es in den 1920er Jahren der Schriftsteller Alfred Polgar auf den Punkt, hat sich zur „vertikal ausgespannten Zeitung“ gewandelt. Die öffentlich zur Schau ges tellten Schriftzüge, Werbeschriften, Annoncen und Plakate begleiten die Wiener Straßenfotografie über Jahrzehnte, oft dezent im Hintergrund, oft als unübersehbare Hauptdarsteller an Hauswänden und Plakatsäulen. Elfriede Mejchar zeichnet in ihrer Serie Licht und Schatten aus den späten 1950er Jahren grafisch strukturierte Stadträume. Bodo Hell arrangiert in den 1980er Jahren die in die Jahre gekommenen Werbeschriften von Geschäften und Kinos zu neuen Tableaus. An die Stelle der Eindeutigkeit treten nun Bildwitz und ironische Brechung, das freie Spiel mit Zeichen.
Stadt der Frauen, Stadt der Männer: Der öffentliche Raum als Begegnungsort der Geschlechter. Das strenge Reglement der Sittsamkeit wurde in der Straßenfotografie der Jahrhundertwende nur punktuell durchbrochen. Im Prater etwa hat Emil Mayer das Repertoire der Gesten zwischen Männern und Frauen beobachtet, das Changieren zwischen Annäherung und Distanz. Prickelnde Erotik und Sex-Appeal: Die – meist männlich geprägte – Straßenfotografie der Nachkriegszeit kultivierte häufig das voyeuristische Spiel der Blicke. Die Bilder von Begehren und sexueller Verfügbarkeit erschöpften sich nicht selten im Klischee. Erst ab den 1970er und 1980er Jahren, als Jugendkultur und soziale Bewegungen neue öffentliche Räume eroberten, wurden die Lebenswelten und Inszenierungen von Männern und Frauen vielfältiger und kritischer dargestellt.
An den Rand gedrängt: Die mondänen Einkaufsstraßen und die glitzernde Warenwelt haben die Fotografie stets stärker angezogen als die Schattenseiten der Stadt – Entbehrung und Armut. Erst die sozial engagierte Fotografie der Zwischenkriegszeit hat ein Fenster in diese bislang kaum beachteten Räume aufgestoßen. Nun erhielten auch Arbeitslose, Bettler*innen und Notleidende ein Gesicht. Einfühlsame Beispiele einer sozialkritischen Straßenfotografie in den Jahren um 1930 stammen von Edith Suschitzky, Hans Popper und Mario Wiberal. Die Traumatisierungen und das Elend der Kriegsheimkehrer hat nach 1945 Ernst Haas in einer beeindruckenden Serie dokumentiert. Elfriede Mejchar zeigt die Spuren der Armut in einem Wiener Hinterhof, ohne einen einzigen Menschen ins Bild zu rücken.
Große Stadt, kleine Welt: Wem die Stadt gehört, stand bis weit ins 20. Jahrhundert außer Zweifel: den Erwachsenen. Die öffentlichen Spielorte der Kinder waren lange Zeit auf Resträume beschränkt: Straßen, Brachlandschaften und Parks. Der Wurstelprater eröffnete den Kindern eine Welt des Staunens, die Emil Mayer um die Jahrhundertwende in faszinierenden Nahaufnahmen festgehalten hat. In der Zwischenkriegszeit begann das „Rote Wien“ damit, Räume und Spielplätze für Kinder zu errichten. Aber erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten die Kleinen ihren eigenen Platz in der Straßenfotografie. Etwa bei Leo Jahn-Dietrichstein oder Eva Völkel, die Kinder als selbstverständliche Nutzer*innen des Stadtraums zeigen. Einen emanzipativen Ansatz verfolgte Heinz Riedler, der das freie Spiel der Kinder im besetzten Arena-Gelände der 1970er Jahre dokumentierte.
Vergnügen, Entspannung, Auszeit: Die Nacht hat in der Wiener Straßenfotografie erstaunlich wenige Spuren hinterlassen. Nicht die von Lichtschriften geprägte, pulsierende nächtliche Metropole steht hier für das urbane Vergnügen, sondern viel gemächlichere Orte: der Wurstelprater, der Böhmische Prater oder das Kaffeehaus. Die Fotograf*innen lichteten weit häufiger das wirbelnde Kettenkarussell im Prater ab als das Treiben vor den Nachtetablissements. Die Straßenfotografie hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Kehrseite der Arbeit die Aus- und Ruhezeit ist – aber auch die Erschöpfung. Gerti Deutsch und Rudolf Spiegel haben in den 1930er Jahren Schlafende im öffentlichen Raum porträtiert. Matthias Cremer zeigte in den 1980er Jahren, wie sich die Erholungsuchenden den Donaukanal als ungeregelte Erholungs- und Freizeitlandschaft zunutze machten.
Die Ausstellung ist bis 23. Oktober 2022 im MUSA, Felderstraße 6-8, 1010 Wien zu sehen.
Bild oben: Didi Sattmann, Seestadt Aspern, 2014, Sammlung Wien Museum © Didi Sattmann