Autogenes Training zählt heute zu den beliebtesten Entspannungsmethoden. Entwickelt wurde es in den 1920er Jahren vom Berliner Psychiater Johannes Heinrich Schultz. Die Technik sorgt durch Selbsthypnose für einen ausgeglichenen Zustand der Seele und des Körpers. Die Psychotherapeutin Marianne Martin erklärt, wie es funktioniert.
Access Guide Magazin: Welche therapeutischen Methoden eignen sich am besten zur Entspannung?
Marianne Martin: Dafür eignen sich autogenes Training, die Hypnosetherapie und hier auch die Selbsthypnose. Letzteres ist ein Ritual, bei dem man lernt sich selbst in einen entspannten Zustand zu bringen. Dabei kann man beispielsweise in Gedanken von zehn bis eins zählen oder man konzentriert sich auf einen bestimmten Wohlfühlort. Um Entspannung zu erreichen können mehrere Sinneskanäle benutzt werden. Was passiert an dem Ort, an dem ich mich wohlfühle? Was fühle ich, sehe, höre, spüre, rieche oder schmecke ich dort? Es geht darum gute Erfahrungen zu wiederholen. Jeder von uns hat seine innere Schatzkiste, in der gute Erfahrungen gespeichert sind, man muss sie nur aufmachen. Wenn ich mir die positiven Erfahrungen in die Gegenwart hole, kommen auch die guten Gefühle, die ich erlebt habe, zurück. Das hat auch körperliche und psychische Auswirkungen: Der Herzschlag ist regelmäßig, die Atmung ist gut. Wichtig ist nach der Übung wieder zurück in Spannung zu kommen. Das geht z.B. indem man von eins bis zehn zählt. Alle Entspannungsmethoden sollten kontrolliert gemacht werden, d.h. ich entscheide wann die Entspannung beginnt und wann sie aufhört.
Access Guide Magazin: Was darf beim autogenen Training nicht passieren?
Marianne Martin: Leider machen viele Menschen den Fehler, sich nur zu entspannen, ohne die Entspannung auch wieder zu beenden. Mit Entspannungs- CDs oder Apps kommt man wunderbar in die Entspannung rein, aber es fehlt ein Weckreiz. Wer sich tagsüber entspannen will, braucht den aber, sonst bleibt er in einem dösigen Zustand. Viele machen Entspannungsübungen auch nur zum Einschlafen und dann natürlich ohne Weckreiz. Dadurch wird aber nur der Parasympathikus stimuliert, also jener Teil des vegetativen Nervensystems, der für die Regeneration des Organismus und den Aufbau von Energiereserven zuständig ist. Diese Einseitigkeit will der Organismus nicht, es muss abwechselnd auch der Sympathikus aktiviert werden, der Gegenspieler des Parasympathikus. Wer nur auf den Parasympathikus schaltet, befördert eine mieselsüchtige, also negative Stimmungslage. Meine Erfahrung hat gezeigt, dass ein jeweils zweimal durchgeführter Weckreiz nach dem autogenen Training die Stimmung nach einiger Zeit deutlich hebt. Was bei allen Entspannungstechniken zählt, ist die Regelmäßigkeit.
Access Guide Magazin: Aus welchen Gründen suchen Menschen ihre Praxis auf?
Marianne Martin: Das ist sehr verschieden: Da sind welche, die generell besser abschalten möchten oder besser umschalten von Arbeit auf Privat, Menschen, die Probleme aus der Arbeit mit nach Hause nehmen. Andere kommen, weil sie Einschlafprobleme haben oder weil sie sich besser konzentrieren möchten. Es kommen auch Schüler oder Studenten, die sich besser auf Prüfungen fokussieren wollen, oder Manager vor wichtigen Meetings. Das Autogene Training bietet für all das eine gute Technik. Fairerweise muss gesagt werden, dass sich auch jede andere Entspannungsmethode dafür eignet. Für die körperliche und psychische Gesundheit ist es wichtig, den Dauerstress zu durchbrechen. Wir halten kurzfristig Stress meist gut aus, aber für Dauerstress sind wir nicht gemacht, das versetzt Körper und Psyche in eine permanente Alarmbereitschaft und das macht auf die Dauer krank.
Access Guide Magazin: Für wen ist Autogenes Training geeignet, für wen nicht?
Marianne Martin: Die Grundstufe des Autogenen Trainings passt für 99% aller Menschen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man diszipliniert ist. Wem es widerstrebt, regelmäßig zu üben, der ist mit einer anderen Methode besser bedient. Bei akuten psychischen Erkrankungen wie etwa einer schweren Depression muss medizinisch abgesichert werden, ob autogenes Training sinnvoll ist. Bei psychischen Erkrankungen ist es auch vom Schweregrad abhängig, ob autogenes Training sinnvoll ist.
Access Guide Magazin: Wie lange braucht man um autogenes Training zu lernen?
Marianne Martin: Der Grundkurs besteht aus acht Einheiten, jeweils eineinhalb Stunden pro Woche. Danach wissen die Leute, wie sie selbständig weitermachen können. Im Anschluss daran gibt es noch Aufbaukurse wie die Oberstufe. Mein Ausbildner, der Anfang 2022 verstorbene Heinrich Wallnöfer, hat durch gezielten Einsatz analytischer Techniken jene Form des Autogenen Trainings entwickelt, wie sie heute als Autogene Psychotherapie gelehrt wird. Es soll ein freies Assoziieren ermöglicht werden – weitgehend unabhängig von lenkenden Ideen des Therapeuten. Die Grundidee ist, dass der Übende die Fähigkeit der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, die Freud dem Analytiker empfiehlt, sich selbst gegenüber entwickelt. Dabei spielt auch der „hidden observer” (ein Teil des Ich bleibt „wach“) eine integrierende Rolle. So kann jemand erlernen, sein eigener Therapeut, die eigene Therapeutin zu werden.
Access Guide Magazin: Wie schaut eine autogene Trainingsübung aus?
Marianne Martin: Das Erlernen des autogenen Trainings beginnt mit der Schwereübung. Dabei sitzt man locker auf einem Sessel oder liegt auf einer Matte oder auch im Bett. Man schließt die Augen und denkt die Formel „Der rechte Arm ist ganz schwer“ (bei Linkshändern „Der linke Arm ist ganz schwer“). Den Satz wiederholt man etwa fünf- bis siebenmal, dann folgt einmal „Ich bin ganz ruhig“. Diese Abfolge wird in einer Übung drei bis vier Minuten lang wiederholt. Nach einer Woche dreimal täglichen Übens folgt: „Beide Arme sind ganz schwer“. Die Schwere bedeutet Muskelentspannung. Zur Beendigung der Übung spannt man die Muskeln wieder an, indem man dreimal feste Fäuste macht und diese mit viel Muskelspannung zu den Schultern führt. Nach dem dritten Mal werden die Arme mit kräftigem Ausatmen ruckartig nach vorne gestreckt und die Augen geöffnet. Dadurch wird der Entspannungszustand wieder aufgehoben. Diesen Vorgang nennt man „Zurücknehmen“. Für Anfänger ist es wichtig, nicht allein das autogene Training zu erlernen, etwa aus einem Buch. Eine Grundausbildung im autogenen Training sollte immer mit fachlich kompetenter Anleitung erfolgen.
Access Guide Magazin: Wie wirkt sich regelmäßiges autogenes Training auf die Persönlichkeit aus?
Marianne Martin: Durch die erlernte Gelassenheit bietet es besseren Zugang zur eigenen Kreativität, es führt durch das Erleben von Selbstwirksamkeit zu einer Ich-Stärkung. Wer dreimal täglich seine Übungen macht, erfährt unmittelbar, wie sich der Herzschlag und die Atmung beruhigen und sich die Konzentration erhöht. Das autogene Training soll das fördern, was wir Selbstverwirklichung nennen. Dadurch kommt die „Grundpersönlichkeit“ des Menschen, die durch Schicksal, Druck von außen usw. behindert war, besser zutage: Der Mensch wird freier. Das wird von der Umwelt oft als Veränderung erlebt. Durch die regelmäßige Entspannung werden auch die Selbstheilungskräfte mehr aktiviert.
Access Guide Magazin: Danke für das Gespräch.
Die Psychotherapeutin Dr. phil. Marianne Martin ist auf drei Methoden spezialisiert: Autogenes Training/Autogene Psychotherapie, Katathym Imaginative Psychotherapie und Hypnosepsychotherapie. In ihrer psychotherapeutischen Praxis gibt sie regelmäßig Kurse in autogenem Training. Sie ist u.a. Referentin beim Universitätslehrgang für Medizinische Hypnose der Medizinischen Universität Wien, Vorstandsmitglied bei der International Society of Research and Education in Communication – Cooperation – Liaison – Strategies (ISOREC) und bei der Österreichischen Gesellschaft für wissenschaftliche Hypnose (ÖGWH). Homepage Marianne Martin