Vom Aufstehen

Pexels Taryn Elliott

In ihrer Erzählung „Mein idealer Ort“ erinnert sich die Schriftstellerin Helga Schubert an das Aufwachen nach dem Mittagsschlaf in der Hängematte im Garten ihrer Großmutter am ersten Tag der Sommerferien: „Ich lag im Schatten, und es war ganz still. Und es duftete nach dem warmen Kuchen. Dann machte ich die Augen auf“, beschreibt die Autorin ihren „Sehnsuchtsort“. Schuberts Erzählung hat Werner V. und Dario dazu inspiriert, sich ihrerseits an ein bestimmtes Aufwachen in ihrem Leben zu erinnern.

Werner V.*: „Ich wache auf, liege in meinem Gitterbett. Geborgen warm eingepackt füllt sich die Wärme in dem im Kinderschlafsack eingepackten Selbst. Meine Augen öffnen sich, mit verschwommenem Blick an die Decke. Die Deckentapete in leicht cremefarbigem Pastell sieht als gewelltes Papier auf mich herunter. Kurzer Blick zur Seite. Niemand ist da. Ich pelle mich aus der warmen Decke. Es ist Winter, ziemlich kalt und verfroren zittere ich an den Stäben ein ,Mama wo bist du` in meiner kindlichen, noch nicht in Worte fassenden Art … nur in Gedanken oder im Stillen, egal. Niemand da, niemand, der mich hört. Wo sind die alle? Ein inneres vor mich Hinbrabbeln. Hunger, müde, kalt, ängstlich … wann kommt jemand? Soll ich mich durch die Gitterstäbe beißen? In gefühlter Gefangenschaft hüpfe ich auf der dünn wattierten Matratze hin und her. Ich will hier raus. Es wird immer kälter, beheizt wird nur die Stube. Allein schaffe ich das nicht! Ich bin zu klein. Ich lege mich zurück in meine mit eigener Körperwärme beheizten Geborgenheit. Einsam und unsicher verharre ich in meiner Position. Die Frage nach dem Gehört-werden wird immer lauter. Eine innere Leere legt sich zwischen mich und die Kälte. Als Kind dauert alles immer länger, zumindest gefühlt scheinen die Grenzen unüberwindbar. Manchmal fühle ich mich immer noch so, als wäre ich in diesem Gitterbett geblieben“.

Ein Morgen voller Wunder

Dario* erinnert sich an einen besonderen Tag seiner Kindheit: „Es war Weihnachten und ich wachte voller Freude auf. Von draußen strömt die Kälte unter meine Decke und ich hebe sie über meine Gliedmaßen. Langsam stehe ich auf und gehe zum Fenster. Wunderschön, denke ich. Mein gesamtes Fenster war voller Eisblumen und ich schaue gespannt, wie sie ihre Form und Beschaffenheit ändern, die sie über die Nacht gebildet haben. Als großes Highlight blüht dieses Jahr mein Weihnachtsbaum, den ich aus dem Micky Mouse Heft habe, zum allerersten Mal in meinem Leben.  Zu erkennen sind mehrere Farben Rot Grün Blau und sogar gelb auf grünem Karton Hintergrund. Es dauerte eine Weile, bis ich den Blick von dem zauberhaft aussehende Werk der Zeitschrift lösen kann.

Mein nächstes Ziel ist mein Weihnachtskalender und zu meiner Freude sind an diesem besonderen Tag gleich zwei Stück Schokolade zu finden. In meinen Gedanken an den heutigen Weihnachtsmorgen denke ich: Unglaublich! So viele wunderschöne Dinge an nur einem einzigen Morgen. Jetzt fehlt nur noch der Schnee, um die Sache abzurunden. Meine Heizung kocht förmlich vor Hitze und wärmt sanft mein Zimmer. Für einen Moment steht die Zeit still und ich fühle mich wohl und geborgen. Der Boden unter meinen Füßen ist warm und sanft während ich mich in meinem Zimmer Richtung Türe bewege. Langsam gehe ich in die Küche, wo schon meine Mutter wartet und mir einen Tee anbietet. Ich denke: Gott sei Dank ist heute Weihnachten, der schönste Tag im Jahr. Voller Entschlossenheit gehe ich Richtung Garten. Es ist unglaublich: Alles ist mit Schnee bedeckt und sogar ein paar Schneeflocken fliegen herum. Mein Tee ist fertig und ich setzte mich zum Küchentisch. Es ist mein Lieblings-Früchtetee. Der Geschmack der Beeren an diesem Tag wird mir noch lange in Erinnerung bleiben“.

*Werner V. und Dario (Namen geändert) sind Teilnehmer von Eranos, einem Projekt zur beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen.