Neue Auswertungen der Statistik Austria zeigen, was sich schon länger in der Beratung von Caritas, Volkshilfe und Arbeiterkammer offenbart: Armut betrifft immer mehr Menschen in Österreich. Mittlerweile kann sich jede*r Fünfte die notwendigen monatlichen Ausgaben nicht mehr leisten, wer Kinder hat, ist noch häufiger von Armut betroffen.
Renate Anderl, Präsidentin der AK Wien, Anna Parr, Generalsekretärin der Caritas Österreich und Tanja Wehsely, Geschäftsführerin der Volkshilfe Wien beleuchteten im Rahmen einer gemeinsamen Pressekonferenz am 7. Dezember 2022 die Auswirkungen der Teuerungswelle. Es sei erschreckend, dass sich in einem Land wie Österreich Menschen fragen, ob sie essen oder heizen sollen. Caritas, Volkshilfe und AK fordern die dauerhafte Anhebung von Sozialleistungen sowie treffsichere Maßnahmen für von der Teuerung am stärksten Betroffene und Reformen hin zu einem armutsfesten Sozialstaat. Offiziell wird Armut ausschließlich anhand des Haushalts-Einkommens gemessen. Was dabei keine Berücksichtigung findet, ist die Frage, ob die Lebenshaltungskosten dadurch auch tatsächlich beglichen werden können. Gerade in Zeiten der Teuerung ist das ein immer größer werdender blinder Fleck. Die AK hat von der Statistik Austria auswerten lassen, wie viele Menschen in Österreich aktuell von Armut betroffen sind, wenn die Referenz-Haushaltsbudgets der Schuldnerberatung herangezogen werden. Demnach kann sich jeder fünfte Mensch in Österreich die notwendigen monatlichen Ausgaben nicht leisten.
Noch stärker betroffen sind Familien mit Kindern: Jede vierte Familie mit zwei Kindern ist nach dieser Betrachtung von Armut betroffen. Gibt es drei Kinder sind es 40 Prozent der Familien, die in Armut leben. „Die Zukunft dieser Kinder ist akut gefährdet. Wir müssen die Kinder jetzt sofort aus der Armut herausholen“, sagt AK Präsidentin Renate Anderl. Basis für die Berechnung waren die Referenzbudgets der staatlich anerkannten Schuldnerberatung: Diese schlüsseln je nach der Anzahl von Kindern und Erwachsenen in einem Haushalt auf, welches Einkommen zur Deckung der monatlichen fixen Ausgaben notwendig ist. Um die Kosten für Miete, Energie, Telefon, Verkehr, Schulkosten, Nachmittagsbetreuung, Kleidung etc. decken zu können, braucht beispielsweise eine Familie mit einem Kind und zwei Erwachsenen: 3.130 Euro/Monat, eine mit zwei Kindern und zwei Erwachsenen 3.819 Euro/Monat. Eine alleinerziehende Person mit einem Kind benötigt 2.307 Euro/Monat.
Denn diese Berechnungen unterschätzen den Anteil der Menschen in Armut, weil die letztverfügbaren Referenzbudgets der Schuldnerberatung auf Basis des Verbraucherpreisindex 2021 erstellt wurden und daher die enormen Preissteigerungen der jüngsten Zeit noch nicht einbeziehen konnten. Unter Berücksichtigung der Inflation seit Dezember 2021 muss noch eine durchschnittliche Preissteigerung von 9,7 Prozent berücksichtigt werden. Dadurch erhöht sich das notwendige Mindestausgabenniveau der Familie mit einem Kind und zwei Erwachsenen um weitere 304 Euro/Monat, bei zwei Kindern und zwei Erwachsenen um 370 Euro/Monat und jenes des Alleinerziehendenhaushalts mit einem Kind um 224 Euro/Monat. „Hier geht es nicht um trockene Zahlen oder abstrakte Berechnungsmethoden“, sagt AK Präsidentin Anderl. „Es geht darum, exakte Daten zu haben, um den Menschen gezielt helfen zu können. Der Sozialstaat muss Armut verhindern und Betroffene wirksam unterstützen. Dafür ist es einerseits notwendig, eine fundierte Datengrundlage zu schaffen und andererseits die Definition von Armutsbetroffenheit zu überdenken.“
Einmalzahlungen verpuffen schnell
Neben den beschlossenen Valorisierungen bestimmter Sozialleistungen hat die Regierung bisher vor allem mit Einmalzahlungen die Teuerung zu bekämpfen versucht. Die Valorisierung war ein wichtiger Schritt, sei jedoch nicht ausreichend, um Armut zu verhindern, denn nicht alle Leistungen sind inkludiert und der Wertverlust der letzten Jahre wird nicht abgefangen. Bereits vor der Teuerungswelle wurde nur das Notwendigste und dies meist zum billigsten Preis am Markt eingekauft. Das Potenzial, einzusparen oder Abstriche zu machen, sei für Betroffene gleich Null. Dass sich die Armutssituation trotz Hilfen weiter verschlechtert, unterlegen auch detaillierte Berechnungen über Einnahmen und Ausgaben von Caritas-Klient*innen, etwa bei der Mindestpensionistin Frau S. mit einem monatlichen Einkommen von knapp über 1.000 Euro. Bisher blieben ihr 14 Euro pro Tag an frei verfügbarem Einkommen, nun schlägt die Teuerungswelle bei jeder Rechnung zu, zusätzlich die Energie-Nachzahlung. Die Soforthilfen von bisher 1.700 Euro sind nach weniger als einem halben Jahr aufgebraucht. Frau S.‘ frei verfügbares Einkommen sinkt weiter. Ihre Armutssituation hat sich in der Krise weiter verschlechtert.
Ähnlich ist die Situation beim 57-jährigen Franz P. aus Innsbruck, der aufgrund einer Betriebsschließung arbeitslos wurde und seither am ersten Arbeitsmarkt keine langfristige Beschäftigung mehr finden konnte. Er bezieht monatlich knapp 1.000 Euro an Sozialhilfe. Damit liegt sein Einkommen fast 400 Euro unter der Armutsgefährdungsschwelle. Auch seine Ausgaben steigen durch die Teuerung aber massiv, Entlastungsmaßnahmen erhält er in Höhe von 1.370 Euro. Unterm Strich sinkt sein frei verfügbares Einkommen pro Tag um weitere 2 Euro auf € 11,69. Davon muss Herr P. nicht nur die immer teurer werdenden Lebensmittel bezahlen, sondern etwa auch Hygieneartikel, Mobilität, Kleidung, Apotheke.
Diese Beispiele zeigen nicht nur deutlich, wie schnell Einmalzahlungen aufgebraucht wurden. Sie zeigen auch, dass sich die Situation von armutsgefährdeten und -betroffenen Menschen aufgrund der Teuerungen trotz Einmalhilfen verschlechtert. „Diese Menschen stehen vor der Entscheidung: Verschulden oder noch weiterer Konsumverzicht? Und dabei muss man sich vor Augen führen: Diese Menschen können nicht einfach einen Urlaub streichen oder einen Restaurantbesuch ausfallen lassen. Solche Ausgaben gibt es bei Armutsbetroffenen nicht“, sagt Caritas-Generalsekretärin Anna Parr. „Konkret heißt das: Kalte Wohnungen, Frieren und jedenfalls keine Weihnachtsgeschenke oder gar ein Skitag. Wir merken in unseren Sozialberatungsstellen in ganz Österreich, dass sich die Situation für immer mehr Menschen verschärft – bis in die Mittelschicht hinein.“
Auch in der Arbeiterkammer und in der Volkshilfe häufen sich Anfragen von Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie ihr Leben finanzieren sollen. „Eltern müssen ihre Kinder von der Nachmittagsbetreuung abmelden, weil sie sich das nicht mehr leisten können“, berichtet AK Präsidentin Anderl. Vielen macht zu schaffen, dass plötzlich alles so knapp hintereinander teurer wird, vom Wohnen über Energie und Verkehr bis zu Gütern des täglichen Bedarfs.“
„Für viele Familien ist der Dezember dieses Jahr ein Monat voller Sorge was die eigene finanzielle Zukunft anlangt. Immer mehr Menschen melden sich auch bei uns, weil sie von den hohen Energiekosten und steigenden Lebensmittelpreisen immer mehr unter Druck geraten,“ beschreibt Tanja Wehsely, Geschäftsführerin der Volkshilfe Wien, die angespannte Situation für viele Menschen derzeit. Und auch sie betont: „Besonders Kinder aus armutsgefährdeten Familien benötigen jetzt unsere Unterstützung. Es ist höchste Zeit einen nationalen Aktionsplan gegen Kinderarmut umzusetzen!“
„Wir müssen einerseits jene Menschen aus der Armutsspirale herausholen, die bereits vor der Teuerung von Armut betroffen waren und seit den Teuerungen noch stärker davon betroffen sind. Aber wir müssen jetzt auch besonders darauf achten, dass nicht noch mehr Menschen erstmals in den Armutskreislauf einsteigen“, sagt Caritas Generalsekretärin Anna Parr. Dabei müsse besonderes Augenmerk auf Familienarmut gelenkt werden, denn Familienarmut bedeutet immer auch Kinderarmut und somit einen ungleich schweren Lebensstart für betroffene Kinder.
Konkrete Forderungen von AK, Caritas und Volkshilfe
Die dauerhafte Anhebung von Sozialleistungen und treffsichere Maßnahmen für von der Teuerung am stärksten Betroffene: Trotz gescheiterter Reform: Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld auf ein armutsfestes Niveau anheben und Notstandshilfe an Inflation anpassen; eine staatliche Unterhaltsgarantie für Kinder von Alleinerzieher*innen; Reform der Mindestsicherung/Sozialhilfe inkl. Rückkehr von Höchst- zu Mindestsätzen und einheitlichen Kinderrichtsätzen, Anhebung des Richtwerte bzw. des Ausgleichszulagenrichtsatzes im allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) auf die Armutsgefährdungsschwelle.
Antiteuerungspaket für das untere Einkommensdrittel: Mit den beschlossenen Entlastungsmaßnahmen und Reformen wie der Valorisierung bestimmter Sozialleistungen ab 1.1.2023 sind wichtige Schritte zur Armutsreduktion gelungen. Dennoch leiden vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen besonders unter der Teuerung und werden auch 2023 zusätzlich Unterstützung brauchen.
Voraussetzung dafür ist eine fundierte Datenlage: In Zeiten der Teuerung muss auch die Ausgabenseite stärker berücksichtigt werden. Daher soll ergänzend zur einkommensbezogenen Messung der Armutsgefährdung auch die Armutsschwelle und -betroffenheit anhand von Referenzbudgets erhoben werden.
Es braucht eine fundierte Datengrundlage, d.h. eine zentrale Stelle, die über die relevanten Daten wie z.B. Haushaltseinkommen und -größe verfügt inkl. erwerbstätiger Personen ohne Sozialleistungsbezug. Diese Voraussetzungen bestehen aktuell nicht, sind aber notwendig, um in dieser und zukünftiger Krisen treffsicher Unterstützungsleistungen auszugestalten und auszahlen zu können.
Bessere Bildung bringt bessere Chancen: Bildung von Anfang an für alle: Qualitätsvolle Kinderbetreuung und Elementarbildung ab dem ersten Lebensjahr für alle Kinder, Ausbau der Ganztagsschulen und AK-Chancenindex: Umfassender Zugang zu kostenloser Lernförderung.