In Barcelona gibt es zu Sant Jordi, dem Tag des Schutzpatrons von Katalonien, die schöne Tradition, Rosen und Bücher zu schenken. Wer nicht bis zum Frühling warten möchte – der Tag des Heiligen Georg wird nämlich erst am 23. April gefeiert – kann ja schon zu Weihnachten seine Liebsten mit Lesestoff beglücken. Die Redaktion des Access Guide Magazins hat zehn Bücher ausgewählt, die heuer unbedingt unter den Christbaum gehören.
Viktor ist vor Jahren nach Österreich gekommen, auf der Flucht vor dem Antisemitismus in der Sowjetunion. Nun versucht er, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle in einem Durchgangslager in Salzburg zu helfen. Ständig kehrt die Erinnerung an jene Zeit zurück, als er hier selber fremd war. Dazu kommt die Nachricht einer Jugendfreundin: Ihre Tochter, die übrigens auch seine sei, ist verschwunden. Nachforschungen zufolge macht sie sich in Deutschland für die AfD stark – Viktor begibt sich auf die Suche nach ihr. Mit großer Sensibilität erzählt Vladimir Vertlib in diesem teils autobiografischen Roman von großen Worten und kleinen Gesten, von Hass und Liebe und – vielleicht – Versöhnung.
Der Autor Paul Spielmann, der auf einer Bank im Park sitzt und schreibt, ist irritiert. Wer ist der Mensch, der plötzlich auftaucht und ihm zu nahe rückt? Bildet sich der doch tatsächlich ein, dass es in Spielmanns Roman „Steins Paranoia“ um ihn geht. Er heißt Max Stein, wie der Protagonist, und anscheinend gibt es auch Parallelen zwischen seiner Geschichte und der im Roman. Am nächsten Tag setzt sich Spielmann auf eine andere Bank, wird den Quälgeist aber nicht los. Als er beschließt, ab sofort zu Hause zu arbeiten, beginnt Stein, Spielmanns Entführung vorzubereiten. Spielerisch wechselt Peter Henisch die Ebenen zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Leben und Literatur, wie das nur ein ganz großer Erzähler kann.
Regina Hofer erzählt in ihrer zum Teil autobiographischen Graphic Novel “Blad” von dem Kampf einer jungen, kreativen Frau mit ihrem Selbst- und Fremdbild, mit dem Weltbild des traditionalistischen Vaters und ihrer Sehnsucht nach der unbegrenzten Welt da draußen. In durchkomponierten Schwarz-Weiß-Bildern beschwört sie die unausgesprochenen Gefühle der Kindheit und Jugend herauf und rekonstruiert im assoziativen Erzählstrom den Ursprung einer Essstörung.
In Juli Zehs jüngstem Roman tänzelt ein moderner Vater ausgiebig am Rande des Nervenzusammenbruchs. Henning, der Held von “Neujahr” ist ein engagierter Vater, der alles richtig machen will. Er arbeitet halbtags, um sich genauso viel um die beiden Kinder kümmern zu können wie Theresa, seine Frau. Und doch ist es nie genug, er kann es niemandem ganz Recht machen, fühlt sich zerrissen zwischen Kindern und Karriere und weiß mit sich selbst nichts mehr anzufangen, sobald er allein ist.
Sieben Mal hinfallen, acht Mal aufstehen
Ein junger Mann erzählt aus der Stille des Autismus. Naoki Higashida spricht so gut wie nicht – die Sprache, die er in seinen Büchern findet, ist dafür umso kraftvoller. Mit feinem Humor behandelt er Themen wie Schule, Inklusion, Familie, Reisen und Mode. So gewährt er einen einzigartigen Einblick in das Leben mit schwerem Autismus. Ihm ist schmerzlich bewusst, wie seltsam sein Verhalten auf andere wirken muss – ändern kann er es nicht. Stattdessen strebt er danach, das Verständnis für Menschen mit Autismus zu befördern und unsere Gesellschaft dazu zu ermutigen, Menschen mit Behinderungen als Menschen und nicht als Probleme wahrzunehmen.
Arno Geigers Roman führt zurück in das Jahr 1944. Veit Kolbe kommt nach einer Kriegsverwundung an der Front in ein kleines Dorf am Mondsee. Dort trifft er trifft Margot, die wie er bei einer despotischen Bäuerin Unterschlupf gefunden hat. Deren Bruder züchtet Orchideen in einem Glashaus und träumt von seiner Rückkehr nach Brasilien. „Unter der Drachenwand“ ist ein herausragender Roman über den einzelnen Menschen und die Macht der Geschichte, über die Toten und die Überlebenden und auch über die Liebe in Zeiten des Krieges.
In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts werden Bücher nicht mehr gelesen, geschweige denn neu gedruckt, sie dienen als Brennmaterial für die Zubereitung exklusiver Speisen. Book’n’Grill heißt der neue Trend und Chefkoch Geza ist sein Hohepriester. Stör-Schaschlik über Dostojewskis »Der Idiot« oder Schnitzel über Arthur Schnitzler, mit diesen und anderen Kreationen begeistert er seine zahlungskräftige Klientel. Doch was Erfolg hat, findet auch Nachahmer und so sieht sich Geza plötzlich vor unerwartete Probleme gestellt. Vladimir Sorokins geniales Romanfeuerwerk steckt voll absurder Einfälle und beißender Gesellschaftskritik.
In jeder Familie gibt es Geheimnisse und Gerüchte, die von Generation zu Generation weiterleben. Manchmal geht es dabei um Leben und Tod. In seinem neuen Roman erzählt Maxim Biller von einem solchen Gerücht, dessen böse Kraft bis in die Gegenwart reicht. »Sechs Koffer« – die Geschichte einer russisch-jüdischen Familie auf der Flucht von Ost nach West, von Moskau über Prag nach Hamburg und Zürich – ist ein virtuoses literarisches Kunststück. Aus sechs Perspektiven erzählt der Roman von einem großen Verrat, einer Denunziation. Das Opfer: der Großvater des inzwischen in Berlin lebenden Erzählers, der 1960 in der Sowjetunion hingerichtet wurde. Unter Verdacht: die eigene Verwandtschaft.
Im Haus des Erzählers geht es in der Vorweihnachtszeit turbulent zu. Seine beiden Töchter kommen langsam in das Alter, in dem Weihnachtswünsche teuer werden und Familienrituale an Kraft verlieren. Doch der Adventskalender, den die Mutter von einem alten Mann geschenkt bekommt, fesselt die Aufmerksamkeit der ganzen Familie. Er erzählt auf vierundzwanzig Bildern eine faszinierende Geschichte aus der Nachkriegszeit: Drei Männer stehlen ein Worpsweder Gemälde, um damit den Kauf von Heizmaterial und Lebensmitteln zu finanzieren. Ein Schneesturm zwingt sie zur Einkehr in einem einsamen Gehöft, wo eine junge Frau in den Wehen liegt. Meisterlich kontrastiert Klaus Modick die satte Welt der Gegenwart mit einer ebenso behutsam wie anrührend erzählten Weihnachtsgeschichte, in der es um Liebe, Hoffnung und ein Verbrechen geht.
Endlich wird der aufstrebende wissenschaftliche Assistent Fitz auf eine der LSD-Partys seines Professors Leary in Harvard eingeladen. Er erhofft sich davon einen wichtigen Karriereschritt, merkt aber bald, dass Learys Ziele weniger medizinischer Natur sind; es geht dem Psychologen um eine Revolution des Bewusstseins und eine von sozialen Zwängen losgelöste Lebensform. Fitz wird mitgerissen von dieser Vision, mit Frau und Sohn schließt er sich der Leary-Truppe an: Sie leben in Mexiko, später in der berühmten Kommune in Millbrook, mit Drogen und sexuellen Ausschweifungen ohne Ende. Ein kreischend greller Trip an die Grenzen des Bewusstseins und darüber hinaus – T.C. Boyle at his best.