Für den amerikanischen Autor Jonathan Franzen ist Freiheit der am häufigsten missbrauchte Begriff. Dennoch hat er 2010 seinen vierten Roman so betitelt. Heuer erschien sein Weltbestseller in Neuausgabe. Ein schöner Anlass, das Buch noch einmal zu lesen.
Wut und Traurigkeit sind den Romanfiguren Jonathan Franzens nicht fremd. So auch in seinem Roman Freiheit: Patty und Walter Berglund sind Bilderbucheltern und Ökopioniere. Ihr hübsches Haus in einem gentrifizierten Stadtteil haben sie zum Teil eigenhändig renoviert. Bei den eigenen Kindern wollen sie alles richtig machen. Aber unter der scheinbar perfekten Oberfläche hat es längst zu brodeln begonnen. Patty bemüht sich – trotz schleichender Frustration – eine perfekte Vorstadtmutter zu sein. Die mangelnde Zuwendung ihrer linksliberalen Eltern versucht sie durch umso größer Aufmerksamkeit für die eigenen Kinder wettzumachen. Nach dem Scheitern ihrer Jugendliebe zu dem unsteten Richard, einem Rockmusiker und Womanizer, heiratet sie Richards Jugendfreund Walter, einen „großherzigen und freundlichen Spross aus einer Alkoholikerfamilie.
Sehr bald zeigt sich aber, dass Walter zwar stabil, aber auch schwach ist, vor allem gegenüber dem gemeinsamen Sohn Joey, der seinerseits aus pubertärem Widerstand gegen seine liberalen, superkorrekten Eltern zur rechtskonservativen Nachbarin zieht. Als Reaktion darauf beginnt Patty zu trinken: „Wenn sie morgens aus dem Haus kam, um die blau umwickelte ,New York Times’ und die grün umwickelte ,Star-Tribune’ vom Gehweg aufzusammeln, war ihr Teint ein einziger Chardonnay-Klecks.“ Der titelgebende Begriff „Freiheit“ taucht immer wieder unvermittelt auf, einmal in den Gesprächen der Protagonist:innen, in Inschriften oder auch in Richards Liedtexten. Was damit genau gemeint ist, bleibt unklar. Am ehesten beschreibt Franzen Freiheit als Freiheit von etwas, wie das Abwerfen veralteter Traditionen oder Lebensweisen. Aber mitunter läuft die Freiheitssuche auch ins Leere oder nimmt zerstörerische Ausmaße an. Als der Jugendfreund Richard wiederauftaucht, schwören Patty und Walter ihren bisherigen politisch-korrekten Idealen ab. Noch radikaler entwickelt sich Sohn Joey, er wird zum Waffenhändler, der mit ausrangierten Panzerteilen schachert.
Franzens Drei-Generationen-Familiengeschichte reicht bis in die späten 1970er Jahre zurück und deckt als politischen Hintergrund die Zeit von Ronald Reagan bis zur Wahl Barack Obamas ab. Ein zentrales Ereignis bildet 2004, das Jahr in dem George W. Bush erneut zum Präsidenten wiedergewählt wurde, die USA in blutige Kriege im Irak und in Afghanistan verstrickt waren und erste Zweifel an jenen Geheimdienstberichten über die vermeintliche irakische Atomwaffenproduktion auftauchten, mit denen Bush den Feldzug gegen das Regime Saddam Husseins im Jahr davor gerechtfertigt hatte. Vor diesem weltpolitischen Hintergrund löst sich die Familie zwar allmählich auf, das Ende des Romans ist aber trotzdem versöhnlich.
Jonathan Franzen, 1959 in der Nähe von Chicago geboren, wuchs in Webster Groves/Missouri auf, einem Vorort von St. Louis. Für seinen Weltbestseller „Die Korrekturen“ bekam er 2001 den National Book Award. Er veröffentlichte außerdem die Romane „Die 27ste Stadt“, „Schweres Beben“, „Freiheit“, „Unschuld“ und „Crossroads“, das autobiographische Buch „Die Unruhezone“ und vieles mehr. Er ist Mitglied der amerikanischen Academy of Arts and Letters, der Berliner Akademie der Künste und des französischen Ordre des Arts et des Lettres. 2015 erhielt er für seinen Einsatz zum Schutz der Wildvögel den EuroNatur-Preis, 2022 den Thomas-Mann-Preis. Er lebt in Santa Cruz, Kalifornien. Bild: Jonathan Franzen © Winni Wintermeyer/Redux/laif