Rituale geben uns Sicherheit und Struktur. Sobald sie aber einen zwanghaften Charakter bekommen, bedeutet das für die Betroffenen weitreichende Beeinträchtigungen. Die klinische Psychologin Ulrike Demal erklärt im Interview, warum eine Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen die vielversprechendste Behandlungsmethode ist.
Access Guide Magazin: Wann werden alltägliche Rituale zu Zwangsstörungen?
Ulrike Demal: Die wesentlichen Unterschiede sind der Leidensdruck und die Beeinträchtigung der Betroffenen. Rituale, wie man sie aus der Religion kennt, geben Sicherheit und Struktur. Das gilt auch für Rituale in der Erziehung von Kindern, wie Einschlafrituale oder ähnliches. Während diese Rituale freiwillig ausgeübt werden, haben Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken einen zwanghaften Charakter. Die betroffenen Personen müssen die teilweise sehr zeitaufwendigen Rituale machen. Während alltägliche Rituale einen persönlichen Mehrwert haben, stimmt die Kosten-Nutzen-Rechnung bei Zwangsstörungen nicht mehr. Massive Beeinträchtigungen gibt es zum Beispiel im sozialen Bereich.
Access Guide Magazin: Welche Zwangsstörungen gibt es?
Ulrike Demal: Die häufigste Variante ist der Waschzwang in verschiedenen Ausprägungen. Das kann den eigenen Körper betreffen oder auch die Wohnung. Kontrollzwänge richten sich beispielsweise auf elektrische Geräte oder Wohnungstüren. Bei den Symmetrie- und Ordnungszwängen müssen die Dinge immer gleichbleiben. Den Betroffenen gelingt es aber nicht ihre perfektionistische Ordnungssicht umzusetzen, deshalb leben sie meist im Chaos. Wenn es doch gelingt, die perfekte Ordnung herzustellen, darf nichts mehr verändert werden, weil das sie Symmetrie stören würde. Bei Wiederholungszwängen müssen bestimmte Handlungen immer wieder durchgeführt werden, z.B. ein Glas aufheben und wieder hinstellen und ähnliches. Dann gibt es noch den Sammelzwang – da werden oft unwichtige Dinge, wie Werbeprospekte gesammelt, weil man glaubt, sie irgendwann einmal brauchen zu können. Auf der Handlungsebene gibt es das zwanghafte Beichten und Nachfragen. Die Betroffenen wollen dann z.B. wissen, „hab ich auch gegrüßt“ oder „ hab ich alles richtig gemacht“. Mehr als die Hälfte aller Betroffenen entwickelt mehrere Zwänge gleichzeitig.
Access Guide Magazin: Welchen Inhalt können Zwangsgedanken haben?
Ulrike Demal: Es sind Gedanken, die unsinnig sind, aber die zwanghaft auftreten und Unbehagen oder andere unangenehme, emotionale Zustände auslösen. Für die Betroffenen sind diese Gedanken nicht aushaltbar und deshalb setzen sie Zwangshandlungen um das emotionale Unbehagen zu neutralisieren. Die Vorstellung, dass Viren die Türschnalle verunreinigen führt zu zwanghaftem Händewaschen, solange bis das Unbehagen weg ist. Es feht der Sinn für sauber oder verschmutzt – es geht nur um das emotionale Ausgleichen. Das gilt auch für den Kontrollzwang: Betroffene hören nicht auf zu kontrollieren, wenn sie fest gestellt haben, dass wirklich zugesperrt ist. Sie kontrollieren solange nach, bis das Unbehagen weg ist.
Zwangsgedanken können aber auch aggressive Inhalte haben. Das zeigt sich z.B. in der Furcht vor einem plötzlichen Impuls, jemanden anzurempeln oder einem Kind etwas anzutun. Die Betroffenen machen das aber nicht und haben es auch nie gemacht. Trotzdem quälen sie diese Gedanken. Sie reagieren dann mit Rückversicherungen „Ist eh alles in Ordnung“ oder „Lebt das Kind eh noch“. Die Betroffenen leiden furchtbar und fragen sich, woher kommen diese Gedanken? Manche Zwangsgedanken haben auch sexuellen Inhalt, wie die Befürchtung, anderen Menschen unwillkürlich auf das Genital zu starren oder homosexuell oder pädophil zu sein. Dann gibt es noch das magische Denken, einen übertriebenen Aberglauben, bei dem die Betroffenen glauben, dass, wenn sie ein bestimmtes Ritual nicht ausführen, der Mutter etwas passieren wird, oder sie der Partner verlässt und dergleichen.
Access Guide Magazin: Wie viele Menschen sind in Österreich von einer Zwangserkrankung betroffen?
Ulrike Demal: Es betrifft ungefähr zwei Prozent der Allgemeinbevölkerung, davon sind aber sicher nicht alle in Behandlung. Sie wurschteln meist allein zu Hause herum, weil das Thema auch sehr schambesetzt ist. Wenn eine Betroffene dem Arzt oder Psychiater sagt „ich will meinem Kind etwas antun“ stellen selbst Spezialisten häufig eine falsche Diagnose und das brauchen die betroffenen Personen überhaupt nicht. Bei Zwangsstörungen gehen wir von einem biopsychischen Krankheitsmodell aus. Wenn einer überfordernde Lebenssituation eine biologische Prädisposition vorausgeht, kann das zu Zwangsstörungen führen. Eine psychische Erkrankung eines Verwandten ersten Grades führt z.B. signifikant häufiger zu psychischen Erkrankungen beziehungsweise einer biologischen Vulnerabilität. Neurobiologisch werden psychische Erkrankungen auch mit gewissen Hirnarealen und dem Serotoninspiegel in Verbindung gebracht, wo man dann medikamentös ansetzen kann.
Soziale Faktoren aus der Lebensgeschichte spielen auch eine Rolle: Gab es Traumata, war die Erziehung zu streng oder zu lasch oder gab es Erfahrungen mit Mobbing und dergleichen. Betroffene mit geringer Selbssicherheit und Selbstwirksamkeit entwickeln dann aufgrund diverser Defizite Zwangsstörungen zur Emotionsregulation. Zu Beginn verschaffen die Zwangshandlungen den Betroffenen eine kurzfristige Erleichterung. Ohne Behandlung werden die Zwänge aber immer mehr und dauern immer länger.
Access Guide Magazin: Auf welche Warnsignale sollte das Umfeld achten – wann ist eine Behandlung angesagt?
Ulrike Demal: Angehörige sind häufig miteinbezogen, weil sie den Betroffenen zur Rückversicherung dienen. Mitunter können Menschen mit Zwangsstörungen auch erpresserisch sein, wie bei einem Waschzwang, wenn gedroht wird: „Wenn du dich nicht vor der Wohnung ausziehst und sofort duscht, bringe ich mich um“. Der wichtigste Ratschlag für Angehörige ist deshalb, sich nicht in die Zwänge des Anderen einbinden zu lassen. Das ist zwar schwierig und herausfordernd, aber kann gelingen, wenn man dem anderen vermitteln kann: „Ich mag dich trotzdem, auch wenn ich das nicht mache. Du kannst selbst die Verantwortung übernehmen“. Oder „Ich will Zeit mit dir verbringen, aber nicht mit deinem Zwang“. Wichtig für die Angehörigen ist außerdem, auf sich selbst zu achten. Man kann den Betroffenen nur helfen, wenn es einem selbst gut geht. Wenn nicht, wird man schnell zum hilflosen Helfer.
Access Guide Magazin: Wie sieht die Therapie bei Zwangsstörungen aus?
Ulrike Demal: Je nach Ausprägungsgrad haben Medikamente in Kombination mit einer Verhaltenstherapie die besten Aussichten. In der Therapie selbst geht es um Beziehungsaufbau und Motivationsarbeit. Manche kommen fremd motiviert, weil die Angehörigen ihre Zwänge nicht mehr aushalten. Wichtig ist, dass die Betroffenen Vertrauen aufbauen und sich wohl fühlen. Die Therapeut*innen brauchen ein gewisses Störungswissen und Verständnis für die Erkrankung. In der Folge wird versucht ein Erklärungsmodell zu erarbeiten. Die Therapie ist multimodal, das heißt, es wird nicht ausschließlich am Symptom gearbeitet, sondern auch an den zugrunde liegenden Faktoren oder Konflikten. Wenn sich jemand z.B. davor ekelt Türschnallen anzugreifen, dann muss er sie in der Therapie auch wirklich angreifen um den Ekel zu erleben.
In dieser Erregung macht man eine sogenannte Affektbrücke und versucht herauszufinden, woher der Betroffene dieses Gefühl kennt. Da werden dann biografische Zusammenhänge deutlich, wie etwa Mobbing oder der Alkoholiker-Vater und ähnliches. Nur die Aufarbeitung der Lebensgeschichte ändert aber nichts an hartnäckigen Zwangshandlungen. Es muss immer auch noch auf der Symptomebene weiter gearbeitet werden.
Access Guide Magazin: Wie hat sich die Corona-Pandämie auf Menschen mit Zwangsstörungen ausgewirkt?
Ulrike Demal: Die Inhalte der Zwänge ändern sich mit der Zeit. Früher hatte man Angst vor der Pest oder dem elektrischen Strom. Heute sind es die Handymasten und Corona. Natürlich hat das aktuell verordnete Händewaschen viele Menschen mit Waschzwang verunsichert, weil jetzt plötzlich wieder das verlangt wurde, wogegen man die ganze Zeit davor gearbeitet hat. Da ist es wichtig, unterscheiden zu lernen: Wann ist es ein Corona-Händewaschen und wann ein Zwangshändewaschen. Es gibt aber auch Betroffene, die sagen: „Corona ist mir wurscht, vor Schimmel habe ich Angst“.
Access Guide Magazin: Danke für das Gespräch.
Mag. Dr. Ulrike Demal ist klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie), Lehrtherapeutin, Supervisorin und Universitätslektorin an der Medizinischen Universität Wien. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Zwangsstörungen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen und vieles mehr.