„Habe ich die Tür versperrt?“, „Ist der Ofen abgedreht?“ und ähnliche Gedanken beschäftigen viele von uns jeden Tag. Aber was passiert, wenn diese Gedanken übermächtig werden, wenn wir zum Beispiel zwanzig Mal nachschauen müssen, ob wirklich ALLE Fenster geschlossen sind? Die klinische Psychologin Mag.a Katrin Anzirk hat ein paar Fragen zum Thema „Zwangsgedanken und Zwangshandlungen“ beantwortet, um ein bisschen mehr Licht in die Thematik zu werfen. Interview: Rudi Resch
Access Guide Magazin: Was sind Zwangsstörungen, woran erkennt man sie und welche Ursachen haben sie?
Katrin Anzirk: Zwangsstörungen sind psychische Erkrankungen, die sich durch Zwangshandlungen und Zwangsgedanken zusammensetzen. Es gibt nach dem ICD10 die Diagnose „alleinstehende Zwangsgedanken“ und „alleinstehende Zwangshandlungen“ oder (in den meisten Fällen) eben beide Symptome gemischt. Zwangsgedanken sind sich wiederholende, unangenehme Gedanken – die wiederkehrend mit unterschiedlichsten Inhalten auftreten – meistens irrationale, aggressive, sexuelle Inhalte. Diese Zwangsgedanken lösen bei betroffen Personen große Angst und Unwohlsein aus – und das wird versucht zu unterdrücken oder zu neutralisieren – da kommen (meistens) die Zwangshandlungen ins Spiel. Diese werden ausgeführt, um diese Angst zu regulieren und um die Zwangsgedanken ungeschehen zu machen. „Wenn ich das und das nicht mache, wird etwas Schlimmes passieren.“
Diese Angst kann immens groß werden, auch wenn Betroffene wissen, dass eben diese Zwangsgedanken/Zwangshandlungen irrational sind. Sich die Hände gründlichst zu waschen oder das Nachkontrollieren bestimmter Dinge ist jetzt noch nicht pathologisch, aber das so oft wiederholen zu müssen, dass man das Gefühl bekommt man kann sich dagegen nicht mehr wehren hingegen schon. Zu Zwangshandlungen werden vor allem Wasch, – Kontroll -, Symmetrie, – Zähl und Ordnungszwänge genannt. Bei Zwangsgedanken tauchen oft Gedanken auf, jemanden (meistens Bezugspersonen) oder sich selbst etwas anzutun, wobei dies nie in die Tat umgesetzt wird. Und da liegt meistens der größte Teil der Angst, da die Betroffenen sich selbst anzweifeln und diese Gedanken Unwohlsein auslösen.
Access Guide Magazin: Gibt es Menschen- oder Altersgruppen, die besonders stark betroffen sind? Gibt es Unterschiede beim Geschlecht?
Katrin Anzirk: Man sagt, dass Männer und Frauen gleich stark betroffen sind, wobei nach einer Studie sind Frauen zu 55%, Männer zu 45% betroffen. 90% der Zwangserkrankungen tauchen vor dem 40. Lebensjahr auf. Danach ist es eher unwahrscheinlich. Das Durchschnittsalter über die Geschlechter hinweg liegt bei 23 Jahren, wobei bei Männern ist der Erkrankungsbeginn früher, meistens im Alter zwischen 6 und 16 Jahren. Bei Frauen liegt das Durchschnittsalter zwischen 25 und 29 Jahren. Waschzwänge treten in erster Linie bei Frauen auf – der Beginn wird meistens als sehr plötzlich angesehen. Bei Männern hingegen sind es meistens Kontrollzwänge, welche als ein eher schleichender Prozess auftreten. Im Schnitt brauchen Menschen mit einer Zwangserkrankung sieben Jahre, bis sie sich in Therapie begeben, da diese Krankheit sehr mit Scham behaftet ist. Die meisten Patienten kommen wegen ihrer Depressionen und Angststörungen in Therapie, die Zwangserkrankung kommt dann im Laufe der Behandlung zu Tage. Deshalb ist die Dunkelziffer auch sehr hoch und kaum schätzbar.
Access Guide Magazin: Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Gibt es Medikamente die helfen?
Katrin Anzirk: Am meisten untersucht ist die kognitive Verhaltenstherapie, bei der es sich als wirksam herausgestellt hat, die irrationalen Denkmuster anzugehen. Dabei helfen auch die geleitete Konfrontation und die Reaktionsverhinderung. Die Therapeuten leiten ihre Patienten in eine gewisse Situation und versuchen einen besseren Umgang mit den Ängsten und Aggressionen zu schaffen, weil man dieser bestimmten Situation ausgesetzt ist.
Der Therapieansatz ist ähnlich, wie der bei Panikattacken, man versucht dem/der Betroffenen zu zeigen, dass die Angst auch wieder abflaut. Natürlich muss das öfters wiederholt werden, bis es zu einer Symptomlinderung kommt. Auch psychodynamische Therapie, also psychoanalytische und tiefenpsychologische Therapien, welche auf einer längerfristigen Basis ansetzen, funktionieren gut. Hier wird der zu Grunde liegenden Konflikt, welcher massive Ängste auslöst, behandelt. Aber auch Gesprächstherapien und systemische Therapien können helfen.
Medikamentös kommen in erster Linie Antidepressiva wie zum Beispiel Escitalopram oder Cipralex zum Einsatz, aber immer in Kombination mit einer Psychotherapie, da die Medikamente allein nicht viel helfen. Tatsache ist, dass Zwangsstörungen schwer zu behandeln sind und man sagt 83% haben eine gewisse Verbesserung. Auch wenn es sich nach viel anhört, kommt es doch zur Chronifizierung. Zur Heilung kommen nur ungefähr 20%.
Access Guide Magazin: Gibt es die Möglichkeit sich im akuten Fall von Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken zu befreien?
Katrin Anzirk: Bis zu einem gewissen Grad kann man selbst daran arbeiten. Ähnlich zur Verhaltenstherapie kann man versuchen sich selbst gewissen Situationen auszusetzen. Aber leider gibt es dazu kein Patentrezept. Es sollte also auf jeden Fall professionelle Hilfe aufgesucht werden. Was nicht hilft, ist Angehörige in den Zwang miteinzubinden.
Access Guide Magazin: Was können Angehörige tun, um zu helfen?
Katrin Anzirk: Wichtig ist es, nicht zu sagen „Es ist eine Sache des Willens” oder „Man muss nur wollen” – solche Sätze sind unter anderem das Schlimmste, was man zu einer Person mit psychischer Erkrankung sagen kann. Immerhin macht man das ja nicht, weil es lustig ist, sondern weil eine ernstzunehmende Erkrankung dahintersteckt. Wenn man es unterlassen könnte, würde man das ja tun. Ein guter Ansatz ist, sich gut abzugrenzen und zu sagen „Das ist die Zwangsstörung und das bist du. Und ich schätze und unterstütze dich aber den Zwang den unterstütze ich nicht. Das bedeutet ich werde nicht alles genau nach deinen Regeln und Ritualen machen.” Natürlich ist das sehr schwierig, aber wichtig ist es, den Menschen hinter der Erkrankung zu sehen. Um es kurz zu fassen: Nicht überzubehüten. Damit wird meistens suggeriert, dass man dem Menschen mit Erkrankung nicht viel zutraut. Es gibt zu dem Angehörigentherapien, die den Umgang damit vermitteln und helfen können.
Access Guide Magazin: Danke für das Gespräch.
Links: Katrin Anzirk, Phönix Project