Der Menschenrechtsaktivist Ai Weiwei zählt zu den einflussreichsten Künstlern unserer Zeit. 1957 in Peking geboren, verbringt er seine Kindheit und Jugend in der Verbannung, weil sein Vater Ai Qing, einer der berühmtesten Dichter Chinas, als Regimekritiker und „Rechtsabweichler“ gilt. Während Mao Zedongs „Kulturrevolution“ – der vor keiner Zerstörung und Unterdrückung zurückschreckenden, groß angelegten Umerziehung des chinesischen Volkes – lebt die Familie in einem Lager in der Provinz Xinjiang unter ärmlichsten Bedingungen in einem Erdloch. Ai Qing wird die Reinigung der Latrinen zugeteilt, täglich ist er öffentlichen Demütigungen ausgesetzt. Mit dem Tod von Mao darf er nach Peking zurückkehren und wird rehabilitiert. Ende der 1970er Jahre schreibt sich Ai Weiwei an der Pekinger Filmakademie ein. Sein Jahrgang ist der erste, der seit der „Kulturrevolution“ zugelassen wird. Er nimmt an der Ausstellung der Künstlergruppe Stars teil, die sich von den ästhetischen Leitlinien der Kommunistischen Partei Chinas distanziert. Unter dem neuen Vorsitzenden der Partei, Deng Xiaoping, beginnt der ungebremste wirtschaftliche Aufschwung Chinas, eine radikale Modernisierung der Gesellschaft mit kapitalistisch ausgerichteter Marktwirtschaft. Der Einparteienstaat und die Einschränkung der Meinungsfreiheit werden nicht in Frage gestellt.
Nach dieser Öffnung zum Westen geht Ai zum Studium in die USA. In New York ist er fasziniert vom Minimalismus, von Konzept- und Raumkunst, Performance, Dada und Pop Art. Er gelangt zur wegweisenden Erkenntnis, dass Kunst auch eine Lebensweise, eine Haltung sein kann. 1993 kehrt Ai nach China zurück und bezieht die uralten Handwerkstraditionen Chinas in seine Kunst ein. Zugleich veröffentlicht er Untergrundpublikationen zur chinesischen Avantgarde. Er gründet ein Design- und Architekturstudio und entwirft gemeinsam mit den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron das Nationalstadion für die Olympischen Sommerspiele 2008 in Peking. Später kritisiert er die Abhaltung der Spiele als Propaganda des chinesischen Regimes.
2005 startet Ai einen regimekritischen Blog, in dem er sich gegen Zensur, die Beschränkung individueller Freiheit und die Zerstörung der Kultur Chinas wendet. Er erreicht damit erstmals ein breites Publikum. Das chinesische Ministerium für Staatssicherheit startet 2003 das Projekt „Goldener Schild“, auch „Große Firewall von China“ genannt: Alle als subversiv eingestuften Online-Informationen werden staatlich überwacht. Auch Ais Blog wird zunächst zensiert und 2009 geschlossen. Sein Name wird gänzlich aus dem chinesischen Internet eliminiert. Ab 2007 stellen sich erste internationale Erfolge ein, auf der documenta in Kassel, im Haus der Kunst in München oder in der Tate Modern in London.
Bei dem verheerenden Erdbeben 2008 in Sichuan mit über 90.000 Toten sterben mehr als 5000 Kinder, weil ihre Schulen mit minderwertigem Baumaterial gebaut worden sind: Ai beschuldigt die korrupten Behörden und die Bauwirtschaft der Bereicherung. Da die Behörden die Angelegenheit vertuschen wollen, recherchiert Ai in mehrjähriger Arbeit mit Dutzenden Helfern die Anzahl der in den Schulen umgekommenen Kinder und veröffentlicht deren Namen. Danach folgen staatliche Repressalien und die erste Festnahme im Jahr 2009.
Nach der Verleihung des Friedensnobelpreises 2010 an den chinesischen Systemkritiker Liu Xiaobo greift die Kommunistische Partei Chinas hart gegen mehr als 200 Dissidenten durch: Anwälte, Aktivisten und Schriftsteller werden verhaftet und zum Schweigen gebracht. Auch Ais Studio wird wegen angeblich „nicht sachgemäßer Nutzung“ von den Behörden abgerissen. Die Geheimpolizei hält Ai ohne Anklage und ohne Verurteilung für unbestimmte Zeit an einem unbekannten Ort fest.
Nach 81 Tagen und internationalen Protesten kommt Ai gegen Kaution frei, steht aber weiterhin unter strengster Überwachung. Es wird ihm untersagt zu reisen. Ai äußert weiterhin Kritik am Regime und macht mithilfe seiner Kunst selbst die Umstände seiner Gefangenschaft publik. Als Dissident setzt er sich auch über China hinaus für politische Transparenz und Meinungsfreiheit ein. Erst 2015 erhält Ai seinen Reisepass von den chinesischen Behörden zurück. Er zieht nach Berlin. Dort wird er im Herbst Zeuge der Auswirkungen der Flüchtlingskrise und der damit verbundenen politischen Diskussionen in Europa. Fortan macht er die weltweite Situation Flüchtender, die er neben der Einschränkung der Meinungsfreiheit als eine der größten humanitären Krisen versteht, zu seinem wichtigsten Thema. Durch die Verlagerung seines Lebensmittelpunkts nach Europa positioniert Ai sich in seiner Rolle als Künstler und Aktivist noch stärker als Verfechter von Menschenrechten und demokratischen Grundwerten und bezieht bei aktuellen Ereignissen Stellung. Ai Weiwei lebt und arbeitet derzeit an mehreren Orten, darunter Peking, Berlin, Cambridge (England) und Montemor-o-Novo bei Lissabon.
Die Albertina Modern widmet Ai Weiwei nun seine bislang umfangreichste Retrospektive. „In Search of Humanity“ befasst sich eingehend mit dem Aspekt der Menschlichkeit und der künstlerischen Stellungnahme in Ai Weiweis Schaffen. Die Ausstellung ist bis 4. September 2022 zu sehen.
Bild ganz oben: Ai Weiwei, Illumination, 2019, Foto: Courtesy of the artist and Lisson Gallery © 2022 Ai Weiwei