Immer mehr Süchte beherrschen unsere Gesellschaft und nicht selten wird das mit dem hohen Preis der Unfreiheit bezahlt. Süchtig sein kann man nach vielem: Zigaretten, Alkohol, Drogen, Essen, Arbeit, Internet, Einkaufen oder Glücksspiel. Die Redaktion des Access Guide Magazins hat zwei Bücher zu dem Thema gelesen.
Georg Psota und Michael Horowitz beleuchten in ihrem Buch Sucht die verschiedensten Formen von Suchterkrankungen und deren Ursachen und zeigen, wie diese Abhängigkeiten bekämpft werden können, um wieder ein freieres, ausgeglicheneres Leben zu führen. Neben der fundierten Analyse der Sucht und all deren Auswirkungen auf den Menschen, zeigt Georg Psota anhand von praktischen Beispielen auch die Suchtspirale von Pantient:innen auf. Von Alkoholabhängigkeit bis Internet-Sucht, von Drogen- bis Nikotin-Sucht. Er erzählt etwa von Roland, der sich mithilfe der richtigen Behandlung aus seiner jahrzehntelangen Alkoholsucht hat befreien können und abstinent geworden ist, oder auch von Petra, die einen erfolgreichen Amphetaminentzug geschafft hat, und von Josef, der bis zu 120 Zigaretten täglich rauchte und es trotz Entzugsdepression geschafft hat, mit dem Rauchen aufzuhören. Fälle wie diese drei zeigen, dass es Wege aus der Sucht geben kann und wie wichtig es ist, dass gefährdete Menschen professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Erzählt werden auch die Geschichten vieler prominenter Drogenkonsument:innen – von Sigmund Freud und dem traurigen „Club 27“ mit Jimi Hendrix, Kurt Cobain oder Amy Winehouse – bis zum deutschen Musiker Konstantin Wecker, der seine Drogenprobleme Mitte der 1990er Jahre in der Autobiographie „Uferlos“ beschrieb. Die philosophische Rechtfertigung für die Neigung vieler Kunstschaffender für Rauschhaftes lieferte Friedrich Nietzsche ein Jahrhundert davor: „Damit es Kunst gibt, damit es irgendein ästhetisches Tun und Schauen gibt“, schrieb der deutsche Philosoph, „dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben, eher kommt es zu keiner Kunst.“ Allerdings bedürfe es nach Nietzsche einer „strengen apollinischen Disziplin, um den dionysischen Taumel individuell zu formen“.
Schöne Möglichkeiten
Im Verständnis vieler Menschen gilt Sucht immer noch als selbstverschuldete Verhaltensauffälligkeit und nicht als Erkrankung. Dabei werden Suchtmittel häufig auch im Sinne einer Selbstmedikation gegen psychische Belastungen wie Stress, Ängste oder depressive Verstimmungen eingesetzt. Erst wenn suchtkranke Patient:innen bereit zu einer längerfristigen regelmäßigen Behandlung bereit sind, gibt es eine gute Prognose. Zu den entscheidenden Motivationsfaktoren zählt die „Sehnsucht nach etwas Schönem“, schreibt Michael Musalek. Der Psychiater verfasste das Vorwort zu „Sucht“. Nur wenn „wir ein für uns schönes Ziel vor Augen haben, sind wir wesentlich eher bereit, auch ausreichend viel dafür zu tun, als wenn es sich um ein im Letzten doch unattraktives Ziel handelt“, schreibt Musalek. Dieser Grundgedanke findet sich auch im sogenannten Orpheus-Programm wieder, das suchtkranken Menschen dabei hilft wieder ein freudvolles und autonomes Leben führen zu können. Neben Abhängigkeiten von Alkohol und Nikotin und anderen Drogen wie Cannabis, Opium oder Kokain thematisiert das Buch auch andere Süchte, wie Esssucht, Arbeitssucht oder Spielsucht. Darüber hinaus wird auch die Situation von Angehörigen suchtkranker Menschen beleuchtet. Insgesamt ist es den beiden Autoren gelungen, das Thema Sucht und Suchtbehandlung auf verständliche und auch spannende Weise zu erklären. Sucht ist 2022 im Residenz Verlag erschienen.
Im Schatten des Erfolgs
Mit der ihr eigenen Verve und Sprachgewalt nimmt sich die französische Schriftstellerin Virginie Despentes in ihrem neuen Roman Liebes Arschloch der Themen unserer Zeit an – #MeToo und Social Media, Machtmissbrauch, Feminismus und Drogen. Ungeschönt, aber nicht unversöhnlich hält Despentes unserer Gesellschaft den Spiegel vor: Rebecca, Schauspielerin, über fünfzig und immer noch recht gut im Geschäft. Oscar, dreiundvierzig, Schriftsteller, der mit seinem zweiten Roman hadert, und Zoé, noch keine dreißig, Radikalfeministin und Social-Media-Aktivistin. Diese drei, die unterschiedlicher nicht sein könnten, treffen nach einem verunglückten Instagram-Post Oscars aufeinander. Wie? Digital. Und so entsteht ein fulminanter Briefroman des 21. Jahrhunderts, in dem alle wichtigen gesellschaftlichen Themen unserer Zeit verhandelt werden. Rebecca, Oscar, Zoé, alle drei sind vom Leben gezeichnet, voller Wut und Hass auf andere – und auf sich selbst. Aber sie müssen erkennen, dass diese Wut sie nicht weiterbringt, sondern nur einsamer macht, dass Verständnis, Toleranz und sogar Freundschaft erlernbar und hin und wieder sogar überlebenswichtig sind. Mit dieser Tour de Force durch gesellschaftliche Debatten und Konflikte behauptet Virginie Despentes klar ihre Position als eine der wichtigsten Autor:innen Frankreichs, die Wut und Aggression gekonnt einsetzt, um Versöhnung zu predigen. Der Roman ist Kiepenheur & Witsch erschienen.