Aktuell leiden bereits 15% der österreichischen Bevölkerung an Adipositas. Die Corona Pandemie hat diesen Aufwärtstrend noch befeuert. Die neu gegründete „Österreichische Adipositas Allianz“ fordert nun Prävention, Therapie und medizinische Ausbildung der realen Situation anzupassen sowie die Stigmatisierung der Betroffenen zu beenden.
„Aktuell ist die Versorgung für Menschen mit Adipositas in Österreich absolut unzureichend“, stellt Johanna Brix, Fachärztin für Innere Medizin, klar. Diesen Zustand zu verbessern, bezeichnet die Präsidentin der Österreichischen Adipositasgesellschaft (ÖAG) als vorrangigstes Ziel der neugegründeten österreichischen Adipositas Allianz. Zwei weitere Fachgesellschaften befinden sich unter den Gründungsmitgliedern: die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) und die Österreichische Gesellschaft für Adipositas- und metabolische Chirurgie (ÖGAMC). Die Stimme der von Adipositas betroffenen Menschen ist ebenfalls in der Allianz vertreten. Die Allianz fordert eine Anerkennung von Adipositas als ernstzunehmende und eigenständige Erkrankung seitens der Gesundheitspolitik sowie der Sozialversicherung. Trotz Zuweisung eines international anerkannten Klassifizierungscodes für Krankheiten (ICD-10-CM Code E66) werde Adipositas immer noch als individuelles „Life-Style-Problem“ abgetan. Dies verhindere eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema und blockiere das Etablieren effizienter Präventions- und Therapiemaßnahmen.
Wichtig sei auch ein Ende der Diskriminierung und Stigmatisierung von Betroffenen. Diskriminierung finde in fast allen Lebensbereichen statt, etwa im Erwerbsleben: Menschen mit Adipositas werden bei der Vergabe von Jobs benachteiligt, Jugendliche finden schwerer eine Lehrstelle. Während Betroffene anderer chronischer Erkrankungen Therapien selbstverständlich zur Verfügung gestellt bekommen, müssen Menschen mit Adipositas geschätzte 2/3 der Therapiekosten privat zahlen. Unsere westliche Welt hat ein „adipogenes“ Umfeld geschaffen. Es braucht dringend Maßnahmen, die den „gesunden Weg“ zum einfachsten machen. Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche, um ihnen einen guten Start in ein gesundes Erwachsenenleben zu ermöglichen. Freier und einfacher Zugang für Menschen mit Adipositas zu einer individuell angepassten multifaktoriellen Adipositastherapie, sowie das Aufsetzen eines Disease Management Programmes gemeinsam mit den Gesundheitskassen und der Gesundheitspolitik. Derzeit ist keine Therapiesäule ausreichend verfügbar, weder Ernährungs- und Bewegungstherapie, noch eine psychologische Betreuung. Auch am Markt verfügbare, nachweislich wirksame medikamentöse Therapien werden nicht erstattet.
Starke Unterstützung für die Initiative kommt von der Österreichischen Ärztekammer: „Die österreichischen Ärztinnen und Ärzte betreuen als kompetente Partner Menschen mit Adipositas jeden Tag. Aber sie müssen die Betroffenen nach aktuellem medizinischem Wissensstand und gültigen Leitlinien behandeln können und zudem genug Zeit für dieses komplexe Krankheitsbild haben“, unterstreicht Präsident Thomas Szekeres. Weiters brauche es mehr Ausbildung und Fortbildung für das medizinische Personal und Angehörige weiterer Gesundheitsberufe, so Szekeres.
Kosten müssen gesamtwirtschaftlich betrachtet werden
Thomas Czypionka, Head of IHS Health Economics and Health Policy, verweist auch auf die gravierenden Auswirkungen der Erkrankung auf die Gesamtwirtschaft: „Adipositas hat zahlreiche gesundheitliche Folgen, die sowohl viel Leid als auch enorme Kosten in Gesundheitswesen und Wirtschaft verursachen. Diese Erkrankung ernst zu nehmen und nachhaltig zu behandeln ist nicht nur dringend geboten, sondern für die Gesellschaft insgesamt wertvoll. Wir sind gerade dabei, die Effekte für Österreich zu berechnen.“ Die letzten Prognosen der OECD für Europa zeigen, dass Adipositas zwischen 2020 und 2050 das österreichische BIP im Schnitt um 2,5% pro Jahr reduziert. Miteingerechnet werden hier auch indirekte Kosten wie Krankenstände, vorzeitige Pensionierungen, etc. Bezogen auf das BIP 2021 von 403 Milliarden Euro ginge es also um jährlich rund 10 Milliarden Euro. Lösungen für diese Herausforderung können nur gemeinsam und auf einer breiten Basis entstehen. Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidentin der Österreichischen Apothekerkammer ergänzt: „Für eine frühe Diagnose und professionelle Betreuung braucht es den Schulterschluss der Gesundheitsberufe. Es muss möglichst viele Anlaufstellen geben, die bei Adipositas beratend zur Seite stehen. Das ist ein wichtiger Schritt, um den Anstieg an Neuerkrankungen zu bremsen, Folgeerkrankungen zu minimieren und gesunde, gewichtsoptimierende Maßnahmen anzubieten. Apotheken sind ein wohnortnaher, niederschwelliger Gesundheitsdienstleister mit täglich 400.000 Kontakten zu KundInnen und PatientInnen. Wir wollen einen geschützten Raum anbieten, wo ohne Hemmschwelle Rat gesucht werden kann.“
Stigmatisierung beenden und Menschen als Menschen sehen
Aufklärung über das Krankheitsbild fordert auch Barbara Andersen. Sie ist Klinische- und Gesundheitspsychologin und vertritt als Delegierte der europäischen Organisation EASO-ECPO Menschen mit Adipositas in Österreich. „Es gibt viele Ursachen für Adipositas, in rund 70% der Fällen ist Genetik der Hauptfaktor. Viele wissen das nicht und schreiben Betroffenen Eigenschaften zu wie „faul“ oder undiszipliniert“. Stigmatisierung passiert oft in der eigenen Familie oder im Freundeskreis. Mit gravierenden Folgen für die Betroffenen: Rückzug, soziale Isolation, psychische Erkrankungen wie etwa Depressionen. Dazu Andersen: „Die Österreichische Adipositas Allianz kämpft daher für ein neues gesellschaftliches Verständnis der Erkrankung und für Menschen mit Adipositas.“ Nur so können die Betroffenen aus der Ohnmacht entkommen, Handlungsspielraum für ihre Erkrankung gewinnen – und so schließlich gleichbehandelt werden.