Maria Luísa ist jung, intelligent, eigensinnig. Sie ist eine gute Schülerin und verfolgt auch später konsequent ihren eigenen Weg. Doch sie ist dick. Hoffnungslos dick. Dieser Umstand überlagert und beschädigt alles: ihre sozialen Kontakte, ihr Liebesleben, ihren Wirklichkeitsbezug. Schon als Teenager leidet sie darunter und muss in resigniertem Schweigen das Mobbing durch ihre Mitschüler ertragen. Neben ihrer dominanten Freundin Tony – schlank, schön und von allen umschwärmt – ist sie „das Monster“ oder „der Blauwal“. Im Studium lernt sie David kennen. Obwohl er ihren Körper begehrt, schämt er sich vor seinen Freunden für ihr Aussehen und bittet sie, ihn nicht mehr zu besuchen. Er beendet die Beziehung, aber Maria Luísa kann sich nicht vollends von ihm lösen, denn „die Liebe ist ein sturer Fleck“.
Als Erwachsene fasst Maria Luísa den Entschluss, ihren Magen operativ verkleinern zu lassen. Dadurch verliert sie vierzig Kilo, ein „respektables Gewicht (…), eine Art zweiter Körper, den ich da mit mir herumtrug. Nach der Operation konnte ich nicht mehr essen. Ich trank Brühe, Milch, Säfte. Mein Körper und meine Seele taten weh. Ich verspürte einen großen Hunger. (…) Mein Körper verringerte sich täglich um 250 Gramm, ich wurde allmählich leicht, begann fast zu schweben, so hatte ich mich seit meiner Kindheit nicht mehr gefühlt. Doch ich wurde nicht unbesiegbar. Mein Denken ist immer noch das einer Dicken. Ich werde immer die Dicke bleiben. Ich weiß, daß die Welt der normalen Menschen nicht für mich bestimmt ist“.
Die Erzählerin dieses autobiographischen Romans geht durch die Räume der Wohnung, die sie mit ihren Eltern nach deren Rückkehr aus Mosambik bewohnt hat. Die einzelnen Zimmer bilden die Kapitelüberschriften. Von den Zimmern aus geht sie zurück in ihre Vergangenheit. Im elterlichen Badezimmer erinnert sie sich etwa an die Zeit im Internat, die bereits von der Scham über den eigenen Körper geprägt war: „Das Sich-Zeigen im Waschsaal ist eine Tortur. Ich erfinde eine Möglichkeit, wie ich mich waschen kann, ohne meinen Körper zu zeigen: Ich fülle eine Plastikschüssel mit kaltem Wasser und verstecke mich in einer der Klokabinen, wo ich mich wasche, so gut es eben geht“.
Von den eigenen Eltern fühlt sie sich bedrängt und eingeschränkt, dennoch werden sie ihr nach deren Tod fehlen. „Ich werfe ein funkelndes Feuerwerk auf die Vielfalt und Reichhaltigkeit des Lebens, das Papa geführt hat. Mit ihm habe ich das Staunen der Sinne erfahren. Von Mama habe ich gelernt, dass wir alle Exzesse kontrollieren und nach Möglichkeit vermeiden, ihnen schweren Herzens und siegreich widerstehen müssen. Wenn es gut schmeckt, ist es ein Laster, das es auszulöschen gilt. Der Unterschied zwischen Papa und Mama war: mach, mach es nicht, iss, iss es nicht, geh, geh nicht. Papa lebte, und Mama hielt das Boot über Wasser, deshalb soll ein zweites Feuerwerk speziell für Mama erstrahlen. Für dieses einfache, bescheidene, diskrete und ruhige Fundament unseres Idealismus und unserer Extravaganzen“, schreibt Figueiredo.
Am Tag, an dem ihr Vater stirbt, verspricht ihm die Tochter: „Ich werde nicht enden wie du“. Maria Luísa beginnt eine Therapie, um sich selbst zu entdecken. Die Psychoanalytikerin ist eine diskrete Frau, zurückhaltend, schweigsam und freundlich, doch „die Zärtlichkeit, die ich in ihr spürte, zeigte sie wenig“.
Dann geh, geh mein Kind
Mit großer Offenheit und fast schmerzhaft beschreibt Figueiredo die letzten Lebensjahre ihrer Mutter: „Sie, alt, gebrechlich, krumm, das Haus, aus dem ich geboren wurde, nunmehr mir ausgeliefert, als hätten wir unsere Identitäten getauscht. Ich bin nicht nur ich. Ich bin sie, wie sie früher war. (…) Und aus Respekt wende ich die Augen ab von ihrem Spiegelbild, das ebenso ich bin“.
Luísas Sehnsucht nach eigenen Kindern wird nicht erfüllt. Nach zwei Fehlgeburten gibt sie die Hoffnung auf. Als letzten Raum der Wohnung beschreibt Figueiredo die Diele der Wohnung, einen quadratischen kleinen Raum ohne Tageslicht, für Luísa ein Ort des Wartens und des Abschieds, aber auch des Neuanfangs. Luísa stellt sich die Frage, was im Leben wirklich wichtig ist: „außer der Kunst, den Rosen, dem Meer (…) der Phantasie, die uns herausreißt aus der ewigen Dunkelheit unserer immer gleich verlaufenden Tage”.
Isabela Figueiredos Roman ist reine Fiktion und pure Realität. Die Autorin besticht durch ihre Ehrlichkeit. Geboren wurde sie 1963 in Lourenço Marques, dem heutigen Maputo. 1975, nach der portugiesischen Nelkenrevolution und Mosambiks Unabhängigkeit, verließ sie Afrika allein, ihre Eltern sah sie erst zehn Jahre später in Lissabon wieder. Das Buch über ihre Kindheit in Afrika, Roter Staub, erschien 2019 im Weidle Verlag, übersetzt von Markus Sahr.