Narzissmus als Persönlichkeitsmerkmal kennt man seit langem. Besonders häufig ist der Hang zum übergroßen Ego bei Männern zu finden, die nach Macht oder Ruhm gieren. Die Liste prominenter Vertreter ist schier endlos und reicht von ehemaligen US-Präsidenten über deutsche Talk-Show-Master bis zu heimischen Zeitschriftenverlegern. Dass aber nicht nur Einzelpersonen narzisstisch sein können, sondern auch die Gesellschaft als Gesamtheit, ist eine relativ neue Erkenntnis. Die Wiener Philosophin Isolde Charim hat vor zwei Jahren mit „Die Qualen des Narzissmus“ ein Buch zu dem Thema verfasst.
Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sind die Fragen: Warum sind wir mit dem Bestehenden einverstanden? Wie kommt es, dass wir uns den Verhältnissen unterordnen? Diese Fragen gelte es zu allen Zeiten neu zu stellen, erst recht jedoch in Zeiten von Krisen und Verunsicherungen. Die Antwort heute müsse lauten: Es ist der Narzissmus, der Narzissmus als gesellschaftliche Forderung an jeden Einzelnen mit seiner Losung: „Du musst mehr werden, als du bist, du musst zu deinem Ideal werden“.
Charim beschreibt die Selbstoptimierung als stärkste Antriebskraft unserer Zeit. Jeder und jede versucht heute auf zumindest einem Gebiet Spitzenleistungen zu erbringen, oder sonst irgendwo der oder die Beste zu sein. Die sozialen Medien haben diesen permanenten Erfolgs- und Leistungsdruck noch erhöht. Auf Instagram oder Facebook zeigen Heerscharen von Menschen tagtäglich, wie toll sie sind und berichten unaufhörlich von ihren „perfekten Leben“. Nicht nur das private, auch das Berufsleben wird vor diesem Hintergrund immer fordender. Denn gute Leistungen reichen längst nicht mehr aus, es gilt authentischer und besser zu sein, als der „Mitbewerb“.
Aber wie geht es diesen Selbstvermarktern tatsächlich? Wie schaut es hinter den schönen Fassaden aus. Und wie schaffen wir es aus der Spirale der Selbstoptimierung wieder rauszukommen? Charim verweist auf Sigmund Freuds Definition des Narzissmus. Der Begründer der Psychoanalyse sah im Narzissmus „die ursprünglichste Welterfahrung“ des Säuglings, ein magisches Einssein mit der Welt, das aber sehr bald und schmerzhaft am „Realitätsprinzip“ bricht. Gegen die Perfektion des reinen Lust-Ichs tritt die Welt als Außen, als Störung. Isolde Charim sieht die Einschränkungen durch die Wirklichkeit aber nicht ausschließlich negativ. Dadurch werden auch Normen und Wertvorstellungen übernommen, an denen sich der „sekundäre Narzissmus“ herausbilden kann, ein Ideal, dessen Erlangung, einen wieder in jenen universalen Zustand versetzt, den man als Neugeborenes erlebt hat.
Für ihr Buch borgt Charim den psychoanalytischen Begriff des Narzissmus aus, um die aktuelle gesellschaftliche Normalität zu beschreiben, den „kollektiven Narzissmus“. Dabei geht es nicht mehr nur um innerpsychische Phänomene oder die narzisstische Selbstliebe, wie sie der antike Narziss verkörpert, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, sondern um einen generell gesellschaftlichen Aspekt. Wir hätten – so die Autorin – lange in einer Über-Ich-Gesellschaft gelebt, in der es um das Gesetz des Vaters ging, um moralische Normen. Jahrhundertelang sei das Subjekt durch Feudales unterdrückt worden – mit eifriger Unterstützung der Religionen. Durch die sukzessive Erweiterung der Konkurrenzgesellschaft und eines mittlerweile vollkommen entfesselten Wettbewerbs in allen Bereichen, sei es aber zu einer allmählichen Verabschiedung der Herrschaft des Über-Ichs gekommen. Wegbereiter dafür waren nicht zuletzt die heftigen politischen Kämpfe der 1968er-Generation, deren Aufbegehren gegen Über-Ich Normen letztlich gelungen sei.
Blöderweise entpuppte sich die „große Freiheit“ aber recht bald als Trugbild. Die alten Normen wurden durch die Herrschaft des Ich-Ideals ersetzt. Das Streben nach persönlichem Glück, nach Selbstverwirklichung steht nun ganz oben in der Bedürfnispyramide. Heute haben wir kein repressives Verbot, sondern ein forderndes Ideal: „Wenn die Regeln das unerreichbare Ideal gewissermaßen übersetzen, dann ist das keine Umkehrung. Es ist vielmehr eine Gleichsetzung von Begehren nach dem Ideal mit dem Begehren nach Regeln. Im Befolgen der Regeln umgehen wir kein Verbot – das Einhalten der Regeln wird vielmehr zur Erfüllung des unerreichbaren Ideals“, schreibt Charim.
Der Narzissmus sei so zu einer durchgängigen Konstante der Gesellschaft geworden, die es nur durch eine gewisse Form der freiwilligen Unterwerfung geben kann, einem grundlegenden Einverständnis mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Der gesellschaftliche Narzissmus macht die auf Emotionen gegründete eigene Besonderheit zum Prinzip. Das Ergebnis davon sei eine „zutiefst anti-gesellschaftliche Moral“ und das Phantasma einer völligen, existentiellen „Selbstermächtigung“. Das sei laut Charim aber die Zurückweisung jeder gesellschaftlichen Bestimmung des Ichs und darüber hinaus die „Zurückweisung des Prinzips, dass jede Bestimmtheit in Abgrenzung, in Negation – aber damit auch in Bezug zum Anderen – steht“. Die Rolle der Anderen werde momentan darauf beschränkt, der eigenen Identität zuzustimmen. Diese uneingeschränkte Selbstsetzung des Ichs mündet noch dazu in einen Widerspruch, nämlich in der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Anerkennung. Damit kippe das Ideal einer reinen Selbstermächtigung ins Gegenteil – in ein völliges Ausgeliefert-Sein.
Isolde Charim, geboren in Wien, Studium der Philosophie in Wien und Berlin, arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und des „Falter“. 2006 erhielt sie den Publizistik-Preis der Stadt Wien. Seit 2007 ist sie wissenschaftliche Kuratorin am Bruno Kreisky Forum. Bücher u.a.: „Lebensmodell Diaspora. über moderne Nomaden“ (Hrsg. gem. mit Gertraud Auer 2012), „Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert“ (2018), für den sie den Philosophischen Buchpreis 2018 erhielt. Für die „Qualen des Narzissmus. Über freiwillige Unterwerfung (2022), wurde sie mit dem Tractatus-Preis des Philosophicum Lech 2023 ausgezeichnet. 2022 erhielt sie den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik.