Riley, Boots, Firefly, Gregor und Nick* haben beim Fotowettbewerb des GB*Stadtteilmanagements Atzgersdorf mitgemacht. Hier erzählen sie, was sie auf ihren Streifzügen durchs Grätzl entdeckt haben.
Riley: „Zerbrochen liegst du da. Dein Glas ist rund herum im Gras verteilt. Wie nutzlos du jetzt aussiehst. Dabei hast du früher stets gute Dienste geleistet. Hast uns immer informiert über Ferien, Feiertage und Schulveranstaltungen. Hast uns immer gesagt, wann die Schule aufsperrt und wann wir reindürfen. Hast uns immer Tipps gegeben für heiße Sommer und Winterspaß. Vor Weihnachten warst du immer schön dekoriert. Und du hast dich auch für den Sommer herausgeputzt. Aber jetzt wird die Schule umgebaut und nichts wird mehr so sein wie davor, jetzt wirst du nicht mehr gebraucht. Alles ist im Wandel der Zeit.
Morgendämmerung: Leer. Nichts als Leere und Stille. Es ist komisch die Straße so zu sehen. So leer. Jeden Tag fahren auf ihr so viele Autos und unzählige Menschen überqueren die Straße in Hektik, um an ihr nächstes Ziel zu gelangen. Niemand nimmt sich Zeit, die Straße genau anzusschauen. Zu sehen, wie schön sie eigentlich ist: Eine gerade Straße, gesäumt von Kastanien an beiden Seiten. An einem Ende der Straße ist ein altes Schloss, das so oft verändert wurde, dass man es auf Fotos von früher kaum wiedererkennt. Einst soll hier der ältere Bruder von Napoleon gelebt haben. Am anderen Ende der Straße ist eine große Kreuzung. Sie ist das Gegenteil von Prunk“.
Boots: „Was tut (noch) gut? In meinen Augen: bunt, wirr, belebt. In den Augen anderer eventuell: zu viel, auf die Nase bindend, zu laut. Bauchweh. Das ist die Antwort meines Körpers, wenn ich zu viel spekuliere. Mich zu intensiv mit dem beschäftige, was denn vielleicht jemand anderes denken könnte. Trotz des Wissens wie etwas aussieht für mich, werde ich nie wissen, wie jemand anderes es sieht.
Ein Blick nach rechts und da ist es wieder: Ein Balken unten mittig mit Regenbogengirlande und einem kleinen Regenbogen-Windrädchen. Siehst du ihn? Siehst du ihn, wie ich ihn sehe? Eine Frage ohne Antwort? Oder eine Frage mit der einzigen sinnvollen Antwort: Nein! Denn niemand sieht diesen Balkon, den Ausschnitt dieses Gebäudes zwischen dem kräftig-grünen Atzgersdorf, so wie ich in diesem Moment.
Ein starker Wunsch ausdrücken zu können, was mir (noch) gut tut, wird laut. Also sage ich: Stopp! Danke für die Ruhe, lieber Moment – aber ich möchte weiter. Danke für die Pause lieber Moment. Ich will dich doch noch etwas länger erleben. Als ob mir die Natur den zweiten Teil meiner Erkundungstour noch schöner machen wollte, höre ich noch mehr Tiere, als zuvor. Rascheln im Busch und Vögel, die sich auch für diesen Augenblick einsetzen.
Etwas Bauchweh verspüre ich noch von dem langen Spekulieren. Außerdem eine Prise Müdigkeit und eine Prise Leere. Die Begrünung des Gebäudes könnte man ebenfalls als Prise bezeichnen, wenn die Blumen, Büsche und Bäume nicht schon so tiefe Wurzeln geschlagen hätten in dieser homogenen Masse. Ich fühle mich gerade nicht so tief verankert wie die Pflanzen um mich herum. Eher zerstreut, wie die abgeschälte Rinde der Platanen auf der Wiese. Ich versuche so standfest wie dieses Gebäude zu stehen. Auch wenn ich nur versuchen kann, meine Standfestigkeit zu üben und zu erproben. Danke, liebes Gebäude, lieber Moment. Für dein buntes, wirres und belebtes Dasein. Es war schön, hier zu sein – mit mir allein.“
Firefly: „Zwischen Infrastruktur a bisserl Natur: Zwischen Liesinger Mistplatz, wo Ressourcen pflichtbewusst zurück in den Wertschöpfungskreislauf gebracht werden und dem ellenlangen Frachtbahnhof, wo wiederum frische Ressourcen neu zur Wertschöpfung stoisch warten, zwängt sich scheu und leise ein nicht allzulang neu ergrünter Streifen, wo manchmal Kleinfamilien oder einsame Wölfe Zuflucht vor der Brutalität des Menschseins finden.“
Gregor: „Talahon ist ein moderner, umgangssprachlicher Begriff aus Deutschland. Er beschreibt Jugendliche, die schimpfen, rücksichtslos E-Scooter fahren, Gucci Caps – echt oder gefälscht – und Bauchtaschen tragen, Gewalt und Drogen romantisieren und Elfbar rauchen, eigentlich dampfen. Wie in dem Lokal da drüben. Es wird erzählt, dass hier einmal ein Restaurant war, das nicht gut lief. Der Billiardtisch im Keller hat das Etablissement auch nicht gerettet. So hat man dann halt was anders versucht. Bisschen Feuer legen zum Beispiel und sich mit dem Geld von der Versicherung auf ‘nen schönen Strand bequemen. Nur leider war das Betrug und ist auch noch aufgeflogen.
Seit vier Jahren ist die Hütte jetzt ein Stall für Jungs, die Talahon praktizieren: Bei den Talahühnern sind die Frauenrechte auf null rasiert. Neben den E-Rollern sind geleaste BMWs die Transportmittel der Wahl. Gerne geben sich Talahühner dem Konsum von aromatisiertem Wasserrauch hin – in handlicher Natur wie einer E-Zigarette oder in Form einer Wasserpfeife. Schattenboxen in der Öffentlichkeit und das Beherrschen von Schimpfwörtern in Fremdsprachen auf muttersprachlichem Niveau sind prüfungsrelevant, um erfolgreich ein Talahuhn zu sein. Von Beruf aus wird zielstrebig Arbeitslosigkeit in Vollzeit oder der Handel mit Medikamenten ohne eine fachliche Ausbildung inklusive steuerlicher Ärgernissen und Kenntnis der Staatsanwaltschaft, auf der Straße ausgeübt“.
Nick: „Der Wind weht, es ist heiß. Die Balkone und Blumenkästen in Atzgersdorf werden gnadenlos von der heißen Sonne bestrahlt. Meine Großeltern erzählen von leeren Geschäften, die sich nicht gehalten haben und von der Stadtentwicklung. Die beiden sitzen mit mir auf ihrer Loggia und frühstücken während ich ihnen vom Fotowettbewerb erzähle. Opa sagt „Atzgersdorf ist die älteste Pfarre hier, 700 Jahre alt“ und er erzählt von Wallfahrten und dem Fieberkreuz Marterl. Er holt weiter aus zu einem Steinbruch wo dann das Höpflerbad entstanden ist. Die Steine wurden unter anderem für den Bau vom Stephansdom verwendet.
Der Tisch vor uns ist simpel, schön gedeckt, beide haben sich Tabletts mit ihrem Frühstück gerichtet. Die Geschichtsstunde geht weiter. Ich komme gar nicht mit beim Schreiben. Nebenbei meint meine Oma: „Man muss nur alte Leute fragen, die wissen’s.“ Atzgersdorf lag zur Monarchiezeit außerhalb der Wiener Stadtgrenze und es gab Mautstellen und Linien-Ämter. Früher waren da überall Felder, die aber wenig Ertrag brachten.
Ich lache auf, weil meine Oma das eine Unterrichtsstunde nennt. Ich merke, wie sehr meine Großeltern in ihren Erzählungen aufgehen und mich mitreißen. Wir reden über die Hochzeit meines Bruders, die immer näher rückt und ich merke, wie es mich stresst, dass ich an dem Fotobuch für sie noch nicht arbeiten konnte und ich das noch irgendwie schaffen sollte.
Ich frage ob sich meine Großeltern für den Wettbewerb fotografieren lassen würden, aber meine Oma meint „nicht im Pyjama“ und dass sie sich umziehen müssten, was unnötiger Aufwand wäre und ich ihnen nicht zumuten möchte. Die Erzählung kreist jetzt wieder um Wallfahrten und Religion früher und mein Interesse schwindet und meine Aufmerksamkeit triftet ab“.
Die Preisverleihung des Fotowettbewerbs „Mein Grätzl und ich: Atzgersdorf im Blick“ findet beim Nachbarschaftsfest Atzgersdorf im Carré Atzgersdorf, Gustav-Holzmann-Platz, 1230 Wien am 19. September 2024 zwischen 16:00 und 20:00 statt.
*Alle Namen sind geändert