Grenzgänge

Engin Akyurt Pixabay

Als die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann 1959 für „Der gute Gott von Manhatten den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt, bedankte sie sich in ihrer berühmt gewordenen Rede mit den Worten „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“. Der Satz wurde seitdem unzählige Male zitiert, wenn es um die Frage geht, ob eine Lüge nicht mitunter die bessere Wahrheit ist. Wrexer* meint „Nein“. Warum, erzählt er in folgender Geschichte:

„Es war 2016 und hat mit einem harmlosen Urlaub begonnen. Wobei „harmlos“ relativ ist. Ich war in Wien, ich musste für meine Lehrabschlussprüfung lernen. „Sie“ ist ans Schwarze Meer gefahren. Sie fuhr am selben Tag wie ihr damaliger Lebensgefährte (im Folgenden „H. genannt“) los, nur mit dem Unterschied, dass er mit dem Motorrad unterwegs war und dementsprechend viel länger – mindestens zwei Tage – brauchen würde.

Am Abend, nachdem sie angekommen war, rief sie mich an: „H. ist bereits da und redet mit den anderen Hotelgästen über mich. Das ist irgendwie Scheiße!“ „Er kann doch noch gar nicht da sein, du bist selbst erst vor ein paar Stunden angekommen, wie soll er SO schnell gewesen sein?“

Dieses Telefonat kam mir sehr merkwürdig vor, ich hab es auf ihren Alkoholismus geschoben. Am nächsten Tag rief sie mich wieder an, die Hotelgäste würden sie komisch beobachten und H. würde sie ignorieren. Also entschied sie sich, wieder nach Wien zu fahren. Am späten Abend erreichte mich der erste von vielen Anrufen „Sag mir bitte, auf welche Autobahn ich muss, ich bin gerade da und dort.“ Nach etlichen Stunden schafften wir es gemeinsam über die Grenze Ungarn-Österreich. Also müsste sie ja „bald“ da sein. Und die Zeit verstrich.

Nach einiger Zeit rief sie mich an: „Hey, ich bin gerade da und dort, wo muss ich hin?“ „Ich dachte, du wärst bereits in Österreich, warum bist du wieder in Ungarn?“ Zu diesem Zeitpunkt machte ich mir das erste Mal echt Sorgen. Ein kurzer Zeitsprung nach vorne – ungefähr sechs Stunden – es ist jetzt ein Uhr morgens. Ich hörte das Garagentor und das wohlbekannte Motorgeräusch, ich zog mich an um für die obligatorische „Willkommen Zurück Tschik“ rüber zu gehen. Und ich hörte mir die wilde Autobahnstory an. Natürlich war bereits Alkohol im Spiel, daher musste ich mir einen Teil zusammenreimen. Aber was ich so raus hören konnte, schien sie viermal die Grenze Ungarn-Österreich passiert zu haben. Und noch einiges mehr.

Noch ein Zeitsprung – ungefähr 18 Stunden später – es ist jetzt circa 19 Uhr.
„Hey, ich hab grad die Rettung gerufen, bitte schick sie zu mir rüber!“
„Ist alles okay bei dir?!“
„Ja, mit mir schon, aber Karl und Oliver …“
„Wer sind Karl und Oliver?“
„Ein Vater und sein Sohn, die …“
„Wart, ich komm rüber“

Bei ihr angekommen bot sich mir ein furchtbares Bild. Sie total verzweifelt mit dem Messer in der Hand, auf der Couch ein komplett zerfetzter Polster, hunderttausende Federn überall, eine zerschnittene Decke: „Er kann nicht atmen, er kann nicht atmen, sein Mund war zugewachsen, ich hab ihn aufgeschnitten.“

Ich sah das Blaulicht und dann ging alles sehr schnell. Drei Tage später durfte ich endlich zu ihr. Sie war total auf Droge – verschiedenste Beruhigungsmittel und keine Ahnung was noch. Sie fragt mich, ob ich wüsste, warum sie hier ist, niemand sagt ihr etwas – „Du hast schwerstens halluziniert.“ Ich war der Erste, der ihr diese Wahrheit verkündete“.

Wrexer (Name geändert) ist Teilnehmer von Eranos, einem Projekt zur beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen.