Anorexia nervosa (Magersucht) ist eine der schwersten psychiatrischen Erkrankungen bei weiblichen Jugendlichen. Ihre Entstehung ist durch eine Reihe von biologischen und genetischen Faktoren mitbedingt und muss frühzeitig behandelt werden. Nicht nur die Patientinnen selbst, auch das persönliche Umfeld erlebt dabei psychische Belastungen, die sich auf den Heilungsprozess auswirken können. In einem Pilotprojekt an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Wien und des AKH Wien wurden Eltern von Anorexie-Patientinnen in Form von Workshops oder einer Online-Intervention mit der Krankheit vertraut gemacht. Dabei wurden Fertigkeiten zum genesungsfördernden Umgang mit ihren Kindern vermittelt. Die wissenschaftliche Auswertung des Projekts ergab eine deutliche und nachhaltige Reduzierung der psychischen Belastungen innerhalb der von der Essstörung betroffenen Familie. Die Ergebnisse werden demnächst beim europäischen Kinderpsychiatrie-Kongress in Wien präsentiert.
Bestmögliches Verhalten in schwierigen Situationen
Ein dysfunktionaler Kommunikations- und Interaktionsstil im Familienbund bzw. „High expressed emotions“ von Seiten der Angehörigen gehören zu den zahlreichen Faktoren, die die Essstörungssymptomatik aufrechterhalten. Wie diese adressiert werden können und der Umgang der Eltern mit ihren essgestörten Kindern verbessert werden kann, zeigt das Programm Succeat (Supporting Carers of Children and Adolescents with Eating Disorders in Austria). In einem mehrjährigen Projekt unter Leitung von Andreas Karwautz und Gudrun Wagner (Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Wien/AKH Wien) wurde das Programm in einer randomisiert kontrollierten Studie evaluiert. Eltern von über hundert PatientInnen wurden der Intervention in Form von 8-wöchigen Workshops oder einer Online-Intervention mit 8 Modulen zugeteilt. In wöchentlichen Sitzungen wurden Informationen über Essstörungen und Fertigkeiten zum Umgang mit kritischen Situationen vermittelt. So konnten die Eltern unter Anleitung von Kinder- und JugendpsychiaterInnen und PsychologInnen das bestmögliche Verhalten in schwierigen Situationen erlernen (z.B. bei gemeinsamen Mahlzeiten, Einkaufen oder exzessiven sportlichen Aktivitäten). Während dies in den Workshop-Gruppen über Rollenspiele realisierbar war, konnten sich die TeilnehmerInnen in der Online-Intervention in einem Online-Forum miteinander austauschen.
„Der wichtigste Punkt zu Beginn der Workshops war, zu vermitteln, dass Eltern nicht schuld an der Erkrankung ihres Kindes sind“, erklärt Andreas Karwautz, „niemand wird beschuldigt, etwas falsch gemacht zu haben. Zur erfolgreichen Behandlung dieser höchst komplexen Erkrankung braucht es die Mithilfe der Eltern. Die Workshops dienen dazu, diese zu stärken und ein Teil der Lösung zu werden.“ So lernten die Eltern auch, Bewältigungstechniken für Momente der eigenen Frustration umzusetzen und so als Vorbild für ihre Kinder zu wirken.
Reduktion der krankheitsbedingten Belastung
Die Wirkung der Intervention wurde mittels Fragebogen evaluiert. Allgemeine und essstörungsspezifische Belastung, psychiatrische Symptomatik und „High expressed emotions“ der Eltern wurden sowohl in der Succeat Workshop- als auch Online-Gruppe signifikant reduziert, diese Reduktion war im Langzeitverlauf stabil. Die Fertigkeiten der Eltern im Umgang mit ihren essgestörten Kindern verbesserte sich in beiden Gruppen signifikant. Somit steht eine höchst wirksame störungsspezifische Behandlung für Eltern von Jugendlichen mit Anorexia nervosa zur Verfügung.
Dieses Modell wurde an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Wien/AKH Wien bereits in der klinischen Routine eingeführt. „Da auch die Online-Gruppe eine deutlich positive Resonanz zeigte, lässt sich dieses Modell auch als Online-Intervention zu Hause absolvieren und sinnvoll umsetzen“, erklärt Gudrun Wagner. „Wie sich die Unterstützung der Eltern auf den Genesungsprozess der jungen Patientinnen auswirkt, ist Gegenstand weiterer Auswertungen.“
Internationaler Kongress der Kinder und Jugendpsychiatrie in Wien
Von 30. Juni bis 2. Juli 2019 findet in der Wiener Hofburg der „18th International Congress of European Society for Child and Adolescent Psychiatry“ statt. Es handelt sich dabei mit bis zu 1.500 TeilnehmerInnen um den größten kinderpsychiatrischen Kongress Europas. Andreas Karwautz von der MedUni Wien fungiert als Kongresspräsident.