Ich, mir, mich!

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Als „Narzisst“ versteht man umgangssprachlich einen Menschen, der selbstsüchtig, arrogant und rücksichtslos ist. Das ist zwar keine Krankheit, aber eine Persönlichkeitsstörung, die immer häufiger auftritt.

Wohin man auch schaut, Narzissten begegnen einem an allen Ecken und Enden. Der Begriff „narzisstisch“ wird in der Alltagssprache schon beinahe inflationär verwendet. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Und wo verläuft die Grenze zwischen gesunder Selbstliebe und krankhaftem Narzissmus? Für Reinhard Haller ist Narzissmus „im rechten Maß unerlässlich für die Entwicklung eines gesunden Selbstwerts, für Leistung und Kreativität“. Der Psychiater hat 2018 ein Buch zu dem Thema veröffentlicht.

Haller sieht im Narzissmus „eine psychische Urkraft, welche positiv und negativ gestalten kann“. Der Mensch brauche zur Entwicklung gesunden Selbstvertrauens ein gewisses Maß an Narzissmus, das allerdings dann zum Problem wird, wenn jemand darunter leidet: Entweder die Betroffenen selbst, die durch ihre rücksichtslose Egozentrizität in Isolation geraten sind, oder die Mitmenschen, die es nicht mehr ertragen können von den Narzissten ständig rücksichtslos behandelt und entwertet zu werden. Haller sieht im Narzissmus eine „Supermacht“, die mittlerweile Individuen und Gesellschaft durchdringt. Eine ähnliche Diagnose stellt die Philosophin Isolde Charim in ihrem 2023 erschienen Buch „Die Qualen des Narzissmus“. (Eine Besprechung dazu gibt es hier). Charim und Haller sind sich einig darin, dass die Verschiebung der individuellen und gesellschaftlichen Koordinaten hin zu einem selbstsüchtigen und rücksichtslosen Lebensstil die Gefahr der Entsolidarisierung in sich birgt.

Schätzungen zufolge leiden etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Männer sind häufiger davon betroffen als Frauen. Nicht selten wird die Diagnose erst gestellt, wenn sich die Betroffenen wegen anderer psychischer Erkrankungen in Behandlung begeben, z.B. wegen Depressionen, psychosomatischer Beschwerden, Ängsten, Suchtproblemen oder Essstörungen.

Subtypen des Narzissmus

Der US-amerikanische Psychologe Eric Russ veröffentlichte 2008 gemeinsam mit anderen Psychologen im „American Journal of Psychology“ eine Studie, in der drei Subtypen des Narzissmus beschrieben werden: der exhibitionistische Narzissmus, der grandios-maligne Narzissmus und vulnerabel-fragile Narzissmus. Menschen mit dem exhibitionistischen Typus einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung stellen ihre Großartigkeit gerne öffentlich zur Schau. Dadurch erhalten sie die Aufmerksamkeit, die sie brauchen. In unserer wettbewerbsorientierten Welt kann sich dieser Typus gut anpassen und durchaus sehr erfolgreich sein. Nach außen wirkt der exhibitionistische Typus äußerst selbstbewusst. Anderen Menschen gegenüber verhalten sich diese Personen aber nicht selten überheblich, abwertend und kalt.

Menschen mit dem grandios-malignen oder bösartigen Typus der narzisstischen Persönlichkeitsstörung stellen nicht selten eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Dieser Typus vereint Narzissmus, Aggression, Paranoia und antisoziales Verhalten – eine toxische Mischung, die Betroffene zu extrem grausamen Taten bewegen kann. Nicht selten ist dieser Typus unter Diktatoren zu finden. Maligne Narzissten sind so sehr von ihrer eigenen Großartigkeit überzeugt, dass sie Kritik als persönliche Kränkung empfinden.

Der vulnerabel-fragile Narzissmus ist dagegen weniger nach außen hin sichtbar, weil er durch depressive Verstimmung, Ängstlichkeit und Scham geprägt ist. Menschen mit diesem „verdeckten Narzissmus“. reagieren sehr sensibel auf Kritik und Misserfolge. Im Vergleich zu anderen Typen suchen sie aufgrund von Depressionen und anderen psychischen Symptomen häufiger therapeutische Hilfe.

Narzissmus hat also viele Gesichter. Für Reinhard Haller zählt er zu den wahrscheinlich interessantesten, vielseitigsten und schillerndsten psychischen Phänomenen. „Seine Symptomatik durchschreitet alle Höhen und Tiefen der emotionalen Welt und die ganze Formenpalette psychischer Störungen“, so Haller. Narzisstisches Verhalten reiche vom Gefühl eigener Grandiosität bis zum brüchigen Selbstwert, von der Fantasie grenzenloser Macht bis zur kaltherzigen Entwertung der Menschen, von unersättlicher Anspruchshaltung bis zu masochistischer Demut“, schreibt Haller in „Die Narzissmusfalle“. In seiner positiven Form sei Narzissmus Motor unserer Leistungsfähigkeit und fördere Kreativität. In seiner negativen Variante sei der Narzissmus aber Ursache von Kränkung, Eifersucht, Hass, Streit, Verbrechen und Krieg.

Abhängig von Bewunderung

Von anderen Menschen braucht der Narzisst in erster Linie Bewunderung, er benötigt das zur Selbstwertregulierung. Eine der Ursachen für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung kann in der Kindheit liegen, nämlich dann, wenn ein Kind von seinen Bezugspersonen nur für seine Leistungen geliebt wird. Nicht der, oder die Beste zu sein bedeutet für viele Narzissten den Untergang. Weitere Faktoren für die Entstehung des Narzissmus sieht die Wissenschaft in der jeweiligen genetischen Disposition, der Umwelt und den generellen Beziehungserfahrungen. Missbrauch oder Misshandlung befördern den Narzissmus noch zusätzlich.

Hinter der schillernden Fassade des Narzissten verbirgt sich eine ausgeprägte Verletzlichkeit. Sobald an seiner glänzenden Fassade gekratzt wird, reagiert der Narzisst mit Beleidigungen. Seine fehl geleitete Empathie findet sofort die Schwachpunkte seiner Kritiker. Der exhibitionistische Narzisst geht gezielt dorthin, wo es den anderen besonders weh tut. Die vulnerablen Narzissten ziehen sich im Fall von Kritik in ihre Fantasiewelt zurück. Sie haben nicht gelernt Wünsche zu artikulieren und die Angst vor Zurückweisung lässt sie verstummen.

Oft leben Narzissten, deren Narzissmus sich in Grandiosität zeigt mit anderen Narzissten zusammen, die vulnerabel sind. Letztere sonnen sich in der „Großartigkeit“ des ersteren und die Schwäche der „Vulnerablen“ wird durch die nach außen getragener Stärke der „Exhibitionisten“ kompensiert. Gelingt die verstärkende Spiegelung nicht, gehen Narzissten gerne fremd, werden zu chronischen Betrügern. Für Angehörige kann das Zusammenleben mit einem Narzissten sehr anstrengend sein. Einerseits bieten sie zwar Aufregung und Abwechslung und das soziale Leben ist meist intensiver, weil die Narzissten gerne Hof halten. Andererseits übt das Bedürfnis der Narzissten, ständig bewundert zu werden auch einen enormen Druck aus, vor allem dann, wenn er mit Entwertungen und Vernachlässigungen einhergeht. Das kann zu schweren Kränkungen führen.

In einer gesunden Beziehung würden die Partner im besten Fall aneinander wachsen, in einer narzisstischen Beziehung verharren beide in ihrer Grundposition, was wiederum die Gefahr in sich trägt, dass jede Abweichung eine Krise bringt. Dazu kommt, dass viele Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung häufig Schuldgefühle haben. Die Scham ist die Kehrseite des Narzissmus und die ist für Betroffene nur sehr schwer zu ertragen.

Chance auf Heilung

Für die Behandlung von narzisstischen Störungen steht eine Vielzahl unterschiedlicher Therapieformen zur Verfügung: Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie geht von der Grundannahme aus, dass Faktoren wie frühkindliche Erfahrungen, angeborenes Temperament und andere Lebenserfahrungen die Ausreifung und Funktion der Persönlichkeit positiv oder negativ beeinflussen können. Ein authentisches Selbst kann nur entstehen, wenn die verschiedenen Selbstbilder zu einem integrierten Selbstkonzept organisiert werden.

Die Mentalisierungsbasierte Therapie bezieht sich auf die inneren mentalen Zustände, also die Gedanken, Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse, Überzeugungen von sich selbst und anderen, die dem Verhalten zugrunde liegen. Diese integrative Form der Psychotherapie verbindet psychodynamische, systemische, klientenzentrierte und dialektisch-behaviorale Therapieansätze miteinander. Die Schematherapie wird vor allem zur Behandlung von ausgeprägten, langanhaltenden psychischen Störungen eingesetzt, die sich auf die Persönlichkeit beziehen, wie etwa Borderline oder narzisstische Persönlichkeitsstörung.

In der Kognitiven Verhaltenstherapie ist der Aufbau einer tragfähigen, wertschätzenden therapeutischen Beziehung das wesentliche Element der Therapie. Mit ihr können ungünstige Denkmuster verändert werden, wie etwa die Vorstellung, ständig gut sein zu müssen, um von anderen akzeptiert und wertgeschätzt zu werden. So können die Betroffenen lernen, ihr Selbstwertgefühl nicht mehr so stark von der Meinung anderer Menschen abhängig zu machen und besser mit Kritik umzugehen.