Über psychische Erkrankungen wird nur selten offen gesprochen, denn noch immer haftet ihnen ein Stigma an. Die Betroffenen selbst kommen fast nie zu Wort. Verena* hat ihre Erfahrungen damit aufgeschrieben:
„Meine Recovery-Geschichte im Gewand der Heldenreise. Die Heldenreise stammt von Joseph Campbell der ein US-amerikanischer Literaturprofessor und Autor auf dem Gebiet der Mythologie war. Seine Arbeit deckte viele Aspekte der menschlichen Erfahrung ab. Er behandelte das Motiv der Heldenreise mit dem Ziel, den Menschen weg von einem abhängigen Geschöpf, hin zu einem selbstverantwortlichen Schöpfer seines Lebens zu leiten.
0 Die gewohnte Welt: Ich war berufstätig und hatte eine 40-Stunden-Woche, einen Partner, der selbständig war, zwei Söhne aus meiner Ehe, die geschieden wurde und den Haushalt einer großen Wohnung. Finanziell ist es uns gut gegangen. Ich funktionierte so, wie es mir vermittelt wurde. Ich hatte hohe Ansprüche an mich, um meine Aufgaben perfekt zu erledigen, aber ich hatte auch hohe Erwartungen an meine Mitmenschen, dieses war mir zu dieser Zeit aber nicht bewusst.
1 Der Ruf: Ich hatte zu dieser Zeit immer wieder das Gefühl, nicht zu genügen, nicht die Leistung zu bringen, die nötig war, um alles perfekt zu erledigen. Dadurch kam es, dass ich mir Listen machte, um nichts zu vergessen. Mit diesen Listen bin ich im Bett eingeschlafen. Morgens wenn ich die Augen öffnete, waren meine ersten Gedanken, was ist als Erstes zu tun. Und ich habe mich sofort nach einem Kaffee an die Arbeit gemacht. Zu dieser Zeit hatte ich aus heutiger Sicht schon das Gefühl zu meinem Körper, meinen Bedürfnissen und meinen Wünschen verloren. Ich bemerkte, welche Angst ich hatte, nicht mehr alles zur Zufriedenheit anderer zu erledigen, weil ich immer wieder erschöpft war und das machte mir wiederum extreme Angst, nicht zu genügen. Umso mehr musste ich funktionieren, damit sich meine Ängste nicht bewahrheiten und ich es „nicht schaffe“ wie immer. Bis es eines Morgens nicht mehr ging und ich einen Zusammenbruch hatte. Ich kam auf eine psychiatrische Akutstation in Niederösterreich.
2 Die Weigerung: Meine Erinnerungen beginnen erst wieder ungefähr 10 bis 14 Tagen nach der Aufnahme. Daran erinnere ich mich sehr gut. Ich dachte nur, was soll ich da, da gehöre ich nicht hin. Ja, es geht mir gerade nicht gut, aber ich bin doch nicht verrückt oder dumm! Ich bin körperlich erkrankt, nichts anderes, ein wenig schwach. Nach sechs Wochen wurde ich nach Hause entlassen. Ich fühlte mich nach wie vor nicht fit, ich dachte, so wie bei einer Verkühlung, das wird von Tag zu Tag besser werden. Ich musste sehr bald erkennen, dass es nicht so war, wie ich mir das dachte und wünschte. Ich plagte mich durch die Tage und Wochen. An einer Tagesklinik versuchte ich verzweifelt, wieder so zu werden, wie ich war. Der Versuch zu arbeiten ist immer wieder gescheitert und endete meistens mit Aufenthalten auf der Akutpsychiatrie, was in mir immer das Gefühl des Versagens auslöste. Mit Absprache und Unterstützung verschiedener Berufsgruppen in der Tagesklinik der Akutstation, entschloss ich mich, die Invaliditätspension (Reha-Geld) zu beantragen. Somit war ich für die ersten zwei Jahre in einer befristeten IV-Pension.
3 Der Mentor: Zu dieser Zeit hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, es gibt Menschen, das waren Ärzte, Pflegepersonal und Therapeuten, die mich akzeptierten und annahmen, so wie ich war. Wobei das Gefühl zur Familie (Mutter und Halbgeschwister) sich nicht änderte, ich stand sofort unter Druck, wenn sie mich fragten, was ich denn brauchte, um wieder zu werden wie ich war. Da stellte ich mir manchmal die Frage: Will ich denn das Leben wieder so leben, wie ich es bisher gelebt hatte?
4 Überschreiten der ersten Schwelle: Die Trennung von meinem damaligen Partner folgte bald. Somit war ich eine alleinerziehende, psychisch kranke Frau mit „Diagnosen“. Ich konnte mich nur mehr in den Diagnosen finden. Menschen um mich konnte ich nicht mehr aushalten, ich war reizbar und unausstehlich, keinen Tag kam ich morgens aus dem Bett, in der Nacht quälten mich schlechte Gedanken und Ängste. Lachen und Weinen – das war nicht mehr möglich. Es machte sich eine Leere breit in mir. Ich war die Diagnose. Mir war in dieser Zeit nicht klar, dass ich auch Mutter, Tochter, Schwester, Freundin, Pensionistin war. Alles war mir zu viel, um zu Ruhe zu kommen, um nicht mehr alles spüren zu müssen, trank ich Alkohol und nahm Medikamente ein.
5 Die höchste Prüfung: Meine Söhne, ich und mein damaliger Partner lebten im Burgenland. Wir erfuhren, dass Peter, der Vater der Kinder, an Lungenkrebs erkrankt war. Fünf Monate später war er verstorben. Das war eine Zeit, in der ich mir nicht mehr zu helfen wusste, außer mich mit Alkohol und Medikamenten zu betäuben. Ich musste letztendlich wieder einen Alkoholentzug und dann auch einen Medikamentenentzug machen. Meine Mutter und ich hatten zu diesem Zeitpunkt kaum mehr Kontakt miteinander. Nach meinem Klinik-Aufenthalt, als ich wieder zu Hause war, musste ich feststellen, dass meine Söhne ausgezogen, aber versorgt und nicht allein waren. Meine Söhne haben es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Auch für mich war es sehr bald unerträglich.
6 Die Belohnung: Durch den Entzug konnte ich wieder klar spüren und erkennen. Ich packte die nötigsten Sachen, die mir in diesem Moment wichtig erschienen und fuhr ins Frauenhaus. Von dort aus nahm ich wieder Kontakt zu meinen Söhnen auf, begann dringende finanzielle Dinge zu kläre. Meine Invaliditätspension war auch im Auslaufen und mein neuerlicher Antrag auf I-Pension wurde abgelehnt. Ich beschloss, nicht zu klagen und schickte stattdessen Bewerbungen als Friseurin ab, was ich in jungen Jahren gelernt hatte. So fand ich in Wien einen Job und ein WG-Zimmer, das ich mir gerade noch finanzieren konnte.
7 Überschreiten der zweiten Schwelle: Ich war nun wieder berufstätig und hatte ein kleines Zimmer. All das, was ich auf meiner Reise herausfinden konnte, galt es nun Schritt für Schritt umzusetzen. Ich war regelmäßig in Therapie. So erfuhr ich von der Ex-In Ausbildung.
8 Der schwierige Rückweg: Ex-In Ausbildung: Über Generationen hinweg zeichnet sich in meiner Familie eine ähnliche Problematik ab wie bei meiner Mutter und mir. Ich weiß heute, nicht ich, als Person, war unerwünscht. Ich war – kann – soll sogar sein. Es macht meine Kindheit und Jugend nicht weniger schmerzhaft, aber ich habe MEINE Wahrheit gefunden. Ich erkenne, dass meine Mutter mit ihrem Leben nicht im Reinen ist, und sie mir nicht bewusst ihre schlechten Gefühle vermittelt hat. Diese Last habe ich abgeworfen, liegengelassen und bin weitergegangen, was dazu führte, dass ich meiner Mutter verzeihen konnte. Was nun meine Söhne betrifft, die sind heute erwachsen, sie hatten keine einfache Kindheit. Wir sprechen heute noch über diese Zeit, genau wie über ihren Vater und ihre Oma, zu der sie heute noch guten Kontakt haben. Was durch unsere Gespräche sichtbar wird, ist, dass unsere Liebe zueinander immer spürbar war und ist. Sie wussten, dass ich immer wieder zurückkomme. Das war ein Halt für meine Kinder und mein Halt waren die Kinder.
9 Meister beider Welten: Meine Krankheitserfahrung ist für mich ein schwer verdienter Schatz, den ich in einer imaginären Truhe aufbewahre, achte und nutze. Im Erfahrungsaustausch mit Patient:innen kann ich meinen Schatz teilen. Mit dem Ausbruch der psychischen Erkrankung begann ich damals Möglichkeiten wahrzunehmen, um, wie ich heute weiß, ein selbstbestimmtes zufriedenes Leben zu führen. Durch die Erfahrungen mit meinem Innersten sowie in der Außenwelt ist es mir heute möglich, ein positives Selbstbild zu haben, das mich zufrieden stimmt und mir Gelassenheit gibt. Durch die Akzeptanz meiner Eigenschaften, die ich in manchen Situationen nicht an mir mag, ist mir eine Veränderung in meinem Verhalten möglich. Durch viele positive Erfahrungen in meinen kranken Phasen, unter anderem, auch in psychosozialen Einrichtungen, habe ich heute den Mut und die Offenheit zur Veränderung – die es genauso braucht wie Aufmerksamkeit. Heute hat alles Negative auch etwas Positives und umgekehrt, es ist die Sichtweise, die ich einnehme und das genaue Betrachten der Situation.
0 Gewohnte Welt heute: Meine Gesundheit steht an erster Stelle, auch um Hilfe geben zu können. Meine Stabilität und Belastbarkeit erhalte ich durch wiederholte Reflektion meiner Person und meines Tuns. Heute arbeite ich als Genesungsbegleiterin im Universitätsklinikum Tulln auf der Erwachsenen-Psychiatrie. Wir bieten Einzelgespräche sowie Gesprächsgruppen an, mit Themen wie z.B. „Was verstehe ich unter Gesundheit“ oder „Wie kann ich den Aufenthalt auf der Station nutzen“. Wir bieten aber auch Morgenaktivitäten, Freizeitgruppen und Spielegruppen an.
Fazit: Heute glaube ich an mich und bin überzeugt, dass der Beginn meiner persönlichen positiven Entwicklung mit dem psychischen Zusammenbruch begonnen hat“.
*Namen geändert