Ein neunjähriges Mädchen, das im Zuckerrausch auf einem Spielplatz lebt und dort den Ton angibt? Was wie der Plot eines Abenteuerfilms klingt, hat Sandra tatsächlich erlebt. Die 52-Jährige ist Guide bei Supertramps, einer Sozialinitiative, die in Wien thematische Stadtrundgänge organisiert, welche von ehemalig obdachlosen Menschen geführt werden. Sandra erzählt auf ihrer Tour durch den Venediger Au-Park und das Volkertviertel aus ihrem früheren Leben als versteckte Obdachlose. Sie präsentiert ihre Schilderungen in einer Kombination aus schonungsloser Ehrlichkeit und Wiener Schmäh. Sie erklärt, wie die Straße ein frei gewählter Fluchtpunkt sein kann, wenn die eigene Wohnsituation zum Gefängnis wird. Das Access Guide Magazin hat Sandra auf ihrer Tour durch den zweiten Bezirk begleitet.
„Ich war ein Monat alt, als meine Mutter eines Abends ins Kino ging und nicht mehr zurückkam“, schildert Sandra den Beginn ihrer jahrelangen Heimaufenthalte: „Ich war das Mädchen ohne Namen. Alexandra beziehungsweise Sandra wurde ich erst nach einem Jahr genannt“. Es folgten Jahre bei einer Pflegefamilie, wo Sandra als Gratisarbeiterin ausgebeutet wurde und weitere Heimaufenthalte. „Besonders schlimm war es bei den Nonnen in Biedermannsdorf – keine Spur von Nächsten- oder Mutterliebe“, erinnert sich Sandra. Nach den bitteren Heimjahren voll Zwangsarbeit und grausamen Strafen holte sie der Vater, der sich davor geweigert hatte, sie als Tochter anzuerkennen, aus dem Heim ins Haus seiner neuen Familie. „Meine Stiefmutter war toll und auch die zwei kleinen Brüder, aber mein Vater war extrem gewalttätig“. Nach einem dreiviertel Jahr beschloss Sandra aus dem Haus in Aspern abzuhauen. „Gelandet bin ich im Park am Praterstern. Es war Sommer und ich habe den ganzen Tag mit den anderen Kindern im Park gespielt“. In der Nacht verkroch sich Sandra auf die Dachböden der nahe liegenden Häuser. Nahrung in Form von Süßigkeiten besorgte sie sich in den umliegenden Supermärkten: „Das ging knapp zwei Monate gut, weil ich mich unsichtbar machen konnte“. Schließlich wurde sie dann doch beim Ladendiebstahl erwischt und wieder ins Heim gesteckt.
Idealisierte Mutter
Mit 12 erfuhr Sandra, dass ihre Mutter zurück in Österreich war: „Sie hatte in Italien gelebt. Ich wollte unbedingt zu ihr. Während der Heimzeit habe ich sie idealisiert und mir immer vorgestellt, dass alles besser sein würde, sobald ich wieder mit ihr zusammen war“. Die Realität sah anders aus: „Meine Mutter war Alkoholikerin und schwer traumatisiert, weil sie selbst im Heim aufgewachsen ist – sie war eines der Kinder vom Wilhelminenberg“. Bald hatte ihre Mutter einen neuen – wieder cholerischen – Partner und einen kleinen Sohn, um den sich Sandra kümmerte, während ihre Mutter auf Zechtour war. Daneben begann sie eine Lehre bei einem Greißler. Die damals 16-Jährige war total überfordert. Sie haut wieder ab und lebt auf der Straße. Mit Schnorrereien hält sie sich über Wasser: „Das Schlimmste waren die ständigen Belästigungen durch Männer. Das ging so weit, dass ich einmal zugeschlagen habe“, erzählt Sandra. Kurz darauf wird sie von einer Gruppe Punks „adoptiert“ und findet Unterschlupf im besetzten Haus in der Gassergasse. Ihre Lehre legt Sandra – vorläufig – auf Eis. Ein Jahr lang lebt sie als Punk auf der Straße: „Dann hatte ich genug. Ich wollte zurück in ein geregeltes Leben“, sagt Sandra. Trotz oranger Haare findet sie eine Lehrstelle bei Julius Meinl und schließt dort ihre Ausbildung ab. Nach einiger Zeit im Verkauf wechselt Sandra in die IT-Branche und landet schließlich bei den ÖBB im Callcenter. Sie heiratet und bekommt zwei Töchter. Alles scheint sich zum Guten zu wenden, doch 2006 hat Sandra einen schweren Bandscheibenvorfall.
Versteckte Obdachlosigkeit
Sandra verliert ihren Job, die Ehe zerbricht. Sie wird delogiert und tingelt die nächsten Jahre als versteckte Obdachlose im Freundes- und Bekanntenkreis herum. „In der Zeit habe ich aber auch gelernt, toleranter zu sein und andere Menschen in ähnlich schlimmen Situationen zu verstehen. Keiner lebt freiwillig auf der Straße“, ist Sandra überzeugt. Der Tod ihrer Mutter stürzt Sandra in eine schwere Krise: „Für mich ging es damals um Leben und Tod – und zum Glück habe ich mich für´s Leben entschieden“. Sandra holt sich Hilfe im Neunerhaus, von da an geht es wieder bergauf. Vor zwei Jahren bezog Sandra mit ihrem Lebensgefährten eine eigene Wohnung. Im Vorjahr erhielt sie von den Grünen Leopoldstadt zum Internationalen Frauentag am 8. März den Preis „Frau des Jahres”. Bei der Feier machte Sandra ihrem Partner auch gleich einen Heiratsantrag. Geheiratet im Herbst und zwar im Allianz-Stadion. Sandras Freund wird in grün-weißem Rapid-Outfit erscheinen, Sandra selbst in Austria-Violett: „Aber egal – es gab in meinem Leben schon größere Ungereimtheiten“.
Supertramps ist eine Sozialinitiative, die in Wien thematische Stadtrundgänge organisiert, welche von ehemalig obdachlosen Menschen geführt werden. Dabei setzt jeder Supertramps Guide für seine 90-minütige Tour einen inhaltlichen Schwerpunkt, der im Zusammenhang mit seinen Lebenserfahrungen als Obdachlose*r steht. Ziel der Initiative ist neben der Bewusstseinsbildung für das Thema Obdachlosigkeit, deren Ursachen und Begleiterscheinungen vor allem die Motivation der Guides, einen Weg zurück in eine gesicherte Existenz zu finden.