Die Melancholie ist die kleine, sanfte Schwester der Depression. Sie ist nachdenklich und leise und verlangt nach Ruhe und Einkehr. Entstanden ist der Begriff bereits in der griechischen Antike. Nach der damals geltenden Säftelehre entsprach die Melancholie dem Zustand in dem sich überschüssige grüne Galle schwarz färbte und ins Blut gelangte. Damals wurde die Melancholie hoch geschätzt, weil viele begabte Menschen aus Philosophie oder Kunst melancholische Charakterzüge trugen.
Im Mittelalter änderte sich die Sichtweise. Thomas von Aquin sah die Melancholie als „Müdigkeit der Seele“. Und Kirchenvater Johannes Cassianus verdammte sie gar als „Todsünde“ oder „Instrument des Teufels“. Die Aufklärung wiederum vermutete hinter der Melancholie eine „Schwäche des Nervensystems“. Die Romantik setzte Melancholie mit Depression gleich. Erst nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Melancholie wieder als das gesehen, was sie ist: Anders als die Depression ist die Melancholie nämlich keine Krankheit, sondern ein Gemütszustand, der mitunter die Sinne schärft und die Wahrnehmung verfeinert, wie Valentinas* Text zeigt. Sie hat sich Gedanken über den aktuellen Zustand der Welt gemacht:
„Ich trauer um ein Land, dessen Kind ich nicht mehr bin. Ich trauer um Dostojewski, Tschaikowski und um alle anderen. Ich trauer um Kunst und Literatur. Ich trauer um Ballett und Eiskunstlauf. Ich trauer um Viktor Tsoi, um die Musik und die Filme. Ich trauer um eine Sprache, die ich die schönste der Welt nennen würde, doch fast gar nicht mehr kann. Ich trauer um all das was nicht mehr ist. Eine Nostalgie für etwas, was ich nie erleben durfte. Ein Volk, das es so nicht mehr gibt. Gleichzeitig frage ich mich, wie kann ich diese Trauer überhaupt über meine Lippen lassen? Wie kann ich so egoistisch sein und über ein Land weinen das derzeit vielen Menschen das Leben raubt? Wie kann ich so ein Mensch sein? Wie kann ich stolz über alles reden, was ich liebe, ohne einen Genozid zu verherrlichen? Wie kann ich mir erlauben nur eine Sekunde zu weinen? Ich bin gefangen in einer Nostalgie für all das, was mal war und nie wieder sein wird.
Doch wenn mich jemand fragt, so würde ich nichts davon sagen … Ich würde sagen, dies ist nicht mehr ein Teil von mir, dahin gehöre ich nicht. Doch mein Herz schmerzt, jedes Mal auf`s Neue und ein Teil von mir stirbt immer wieder, wenn ich meine Herkunft verleugne. Wie kann ich etwas lieben und hassen zugleich? Wie kann ich Teil von etwas sein und mich gleichzeitig distanzieren? Es schmerzt, zu sehen was einst war. Es schmerzt zu sehen, was hätte sein können. Doch am meisten schmerzt es zu sehen, was jetzt ist. Ich trauer um ein Land, dessen Kind ich nicht mehr bin“.
Schmerz als Lehrmeister
Tilla* hingegen will gar nicht so viel darüber nachdenken, warum sie manchmal traurig ist. Sie überlegt sich lieber warum sie dankbar ist: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es einen Einfluss auf mein Erleben hat, wohin ich meinen Fokus gerade lenke. Wenn Trauer kommt, lasse ich es gerne zu, ich möchte sie nicht unterdrücken. Momentan erlebe ich aber keine Trauer, eher Dankbarkeit, dass ich auch heute mit netten Menschen umgeben bin, dass auf meine Bedürfnisse geschaut wird, dass ich dem äußeren Druck heute entkomme, dass ich mich darauf fokussieren kann, was mich stärkt. Und wenn trotzdem Trauer auftaucht, ist es ganz ok. Gestern am Weg hierher las ich eine berührende Geschichte, ich hatte Tränen in den Augen, am Vormittag verspürte ich auch Trauer und war an der Grenze zum Weinen. Trauer ist für mich ok. Aber noch besser mag ich es, mich auf die Schönheit und das Gute zu konzentrieren, das mich umgibt. Und wenn man seine Sicht in diese Richtung schult – denn es ist ein wenig ein bewusstes Training – kultiviert man die Fähigkeit, Glück über solche Kleinigkeiten zu empfinden und die Dankbarkeit zu erleben in den vielen kleinen Momenten die einem im stressigen Leben ansonsten bedeutungslos erscheinen.
Ich lese gerade das „Buch der Freude“ von Dalai Lama und Desmond Tutu, zwei Größen, die an die Dankbarkeit appellieren und die einem das Umarmen jeglicher Situation ans Herz legen. Interessant fand ich zu lesen, dass mehrere Astronauten, die schon im Weltall waren, die Ansicht teilen, dass, wenn man unsere wunderschöne blaue Erdkugel in dem unendlichen Universum schweben gesehen hat, man sich zurück auf der Erde, nicht mehr in Konflikte zwischen Personen und Nationen hineinziehen lässt, weil man eine andere Perspektive auf unsere Existenz entwickelt hat, nämlich, dass wir alle Teil einer Familie sind.
Betrachte ich auf diese Art die Situationen, die in mir Trauer hochkommen lassen, gewinne ich mit Glück einen gewissen Abstand und kann die Situation neu interpretieren. Mache ich mir z.B. bewusst, dass heute, während ich gut versorgt in einem Sozialstaat meinen Tag verbringe, Menschen in Sibirien darum bangen, wann die nächste Gruppe der Ehemänner und Söhne einberufen wird. Ein Wiedersehen ist dann kaum in Sicht. Wenn ich mir bewusstmache, in welch glücklichen Bahnen mein Leben im Vergleich zu vielen anderen auf dieser Erde momentan verläuft, kann Trauergefühl kommen und gehen. Ich identifiziere mich nicht mit der Trauer, gebe ihr aber gerne den Raum den sie braucht, um authentisch und gestärkt meinen Weg weiter zu gehen. Denn ich glaube fest daran, dass jeder Schmerz und jede Trauer besondere Lehrmeister in unserem Leben sind“.
Buchtipps zum Thema Melancholie:
George Steiner, Warum Denken traurig macht, Suhrkamp, 2016
Wilhelm Schmid, Unglücklich sein. Eine Ermutigung, Insel-Verlag, 2012
Mariela Sartorius, Die hohe Kunst der Melancholie, Gütersloher Verlagshaus, 2011
*Valentina und Tilla (Namen geändert) sind Teilnehmerinnen von Eranos, einem Projekt zur beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen.