Die galerie gugging zählt weltweit zu den bedeutendsten Präsentations- und Entstehungsorten unverbildeter, ursprünglicher Kunst mit der ihr eigenen Formensprache. Der französische Künstler Jean Dubuffet definierte diese Stilrichtung als Art Brut. Nina Katschnig leitet seit über 20 Jahren die Agenden des Hauses. Im Interview erklärt die gebürtige Kärntnerin, warum sich die Gugginger Künstler heute internationaler Anerkennung erfreuen dürfen.
Access Guide Magazin: Wann war für Sie klar, dass sich in Ihrem Leben alles um Kunst drehen würde?
Nina Katschnig: Das war anfangs überhaupt nicht klar. Obwohl mir eine Freundin das bereits in meiner Studienzeit prophezeit hatte. Ich selbst habe zwar immer gerne Ausstellungen besucht – das lag für mich aber irgendwie nie wirklich auf der Hand.
Access Guide Magazin: Wann und wieso sind Sie dann das erste Mal nach Gugging gekommen?
Nina Katschnig: Das war im Frühling 1997. Ich habe Pädagogik & Psychologie studiert und meine Diplomarbeit über „Schizophrenie, Kunst & Kunsttherapie“ geschrieben. Dann hat mir meine damalige Betreuerin in Klagenfurt den Auftrag erteilt, das Haus der Künstler genauer anzusehen, weil Gugging, was Kunst & Psychiatrie betrifft, weltweit eine Vorreiterrolle eingenommen hat, und immer noch einnimmt und der Begründer Leo Navratil zwei literarische Werke dazu verfasst hat. So bin ich damals eher widerwillig das erste Mal hierhergekommen.
Access Guide Magazin: Wie waren Ihre ersten Eindrücke an diesem besonderen Ort?
Nina Katschnig: Ich erinnere mich noch genau. Als ich angekommen bin, habe ich das Haus der Künstler gesehen und mir gedacht: unglaublich! Ich fand es fantastisch. Die Künstler waren da und alle waren freundlich und nett oder eben auch nicht, es war einfach eine ganz besondere Atmosphäre. Als erster ist dann gleich August Walla auf mich zugekommen und hat mit mir Mensch ärgere Dich nicht gespielt und dabei permanent die Regeln verändert. Trotzdem habe ich gewonnen und er hat daraufhin nie mehr mit mir gespielt. An diesem Tag bin ich auch in Wallas Zimmer gestanden und war überwältigt von dem Kosmos, der sich mir bot. Ich war überrascht, was im Psychiatriekontext alles sein darf, so etwas hatte ich nicht erwartet. Ich bin an diesem Tag beseelt weggegangen und habe mir gedacht, vielleicht sollte ich doch noch ein Interview mit dem Leiter hier machen? Und wie es sein sollte, bekam ich bereits am Folgetag die Möglichkeit mit Johann Feilacher persönlich zu sprechen. Und mitten im Gespräch habe ich mich dann plötzlich sagen gehört: „Ich will gerne hier arbeiten!“ – das hat mich damals selbst überrascht.
Access Guide Magazin: Seit wann genau gibt es Gugginger Kunst?
Nina Katschnig: Anfangswerke gab es bereits in den 50er- und 60er-Jahren. Das erste Mal gezeigt wurden sie dann im Jahr 1969, als Arnulf Rainer erstmals seine private Sammlung von Gugginger Künstlern in einer Ausstellung in der Wiener Sezession präsentierte. Somit wurde der Fokus der Öffentlichkeit hierzulande erstmals bewusst auf Art Brut, diese rohe, unverfälschte Kunst, gelenkt. Es wurden damals bereits Bilder von Oswald Tschirtner und August Walla gezeigt. Dann gab es 1970 die erste Ausstellung von Gugginger Künstlern unter dem Titel Pareidolien in der Galerie nächst St. Stephan und aufgrund des Erfolges, haben sich die Ausstellungstätigkeiten immer weiterentwickelt.
Access Guide Magazin: Wie wurde damals festgelegt, welche Künstler gefördert wurden und welche nicht?
Nina Katschnig: Das war eine Herausforderung, denn in den 50er- und 60er-Jahren gab es in Gugging zeitweise bis zu 700 Patienten, die gerade einmal von zwei Ärzten betreut wurden. So führte der damalige künstlerische Leiter Leo Navratil mit allen Gugginger Künstlern nach englischem Vorbild Zeichentests durch und fand heraus, dass manche von ihnen aufgrund ihrer vollkommenen Eigenständigkeit nicht zuordenbar waren, denn sie passten so gar nicht in die vorgegebenen Kategorien. In weiterer Folge schickte er auf Anraten befreundeter Künstler einige Gugginger Werke direkt an den Art Brut-Begründer Jean Dubuffet, der auch der Namensgeber der Kunstrichtung war, um seine Expertenmeinung einzuholen, und der war begeistert.
Access Guide Magazin: Wie entstand dann das „Haus der Künstler“?
Nina Katschnig: Im Jahr 1981 gründete Leo Navratil für 18 seiner begabtesten Patienten das Zentrum für Kunst und Psychotherapie. Als Johann Feilacher dann im Jahr 1986 die Leitung übernahm, wurde es in Haus der Künstler umbenannt. 1990 bekam die Gruppe der Künstler aus Gugging den Oskar-Kokoschka-Preis überreicht, eine bedeutende österreichische Auszeichnung für ihre Verdienste um die zeitgenössische Kunst. Als ich 1997 dazu gekommen bin, war das Haus der Künstler eigentlich schon zu klein, aber das Haus daneben gerade frei. Dort befindet sich heute das Art Brut Center.
Access Guide Magazin: Haben einige der Gugginger Künstler eine künstlerische Ausbildung absolviert?
Nina Katschnig: Nein, durch die Bank niemand und sie werden auch nur dahingehend gefördert und angeleitet, dass man ihnen Materialien und einen angenehmen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt. Also werden hier lediglich Rahmenbedingungen geschaffen und die Künstler in ihren natürlichen Fähigkeiten unterstützt.
Access Guide Magazin: Wie kann man sich das Zusammenleben der Künstler vorstellen?
Nina Katschnig: Was den Künstlern im Haus der Künstler geboten wird ist eine Tagesstruktur, wo sie wie eine Großfamilie leben. Aktuell sind es 13 Künstler, die in Zweibettzimmern untergebracht sind, denn Einzelzimmer sind hier nicht so gefragt. Es ist ein schönes Miteinander, wo Anlässe wie Ostern, Weihnachten oder Geburtstage gemeinsam gefeiert werden. Die Zeit zwischen den täglichen Mahlzeiten nützen die Künstler dann oft um kreativ tätig zu sein. Zum Zeichnen oder Malen kommen sie entweder ins offene Atelier, das sich im selben Geschoss wie die Galerie befindet, oder sie bleiben im Haus der Künstler. Manche, wie der Herr Reisenbauer, kommen aber lieber zu mir in mein Büro, weil sie hier ihre heilige Ruhe haben, oder Günther Schützenhöfer, der mir gerne seine neuesten Geschichten erzählt.
Access Guide Magazin: Welche sind die wichtigsten Vertreter der Gugginger Art Brut?
Nina Katschnig: Historisch gibt es verschiedene Generationen. Da gibt es einmal die Klassiker der Gugginger Künstler, die international anerkannt sind und bereits ihre Höhenflüge erlebt haben, dazu zählen Johann Hauser, Oswald Tschirtner und August Walla. Wenn heute jemand irgendwo auf der Welt eine repräsentative Art Brut-Ausstellung organisiert, sind diese drei Protagonisten meist immer mit dabei. Mittlerweile rückt hier aber bereits die nächste Generation nach, zu der etwa Johann Garber, Franz Kernbeis, Johann Korec oder Heinrich Reisenbauer gehören. Und dann gibt es noch eine jüngere Gruppe, zu denen Laila Bachtiar, Manuel Griebler, Helmut Hladisch, Günther Schützenhöfer oder Jürgen Tauscher zählen. Es gibt für alles eine Zeit und es dauert immer eine Weile, bis Künstler in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken können, um ihre Spuren zu hinterlassen.
Access Guide Magazin: Wie würden Sie den Stellenwert von Art Brut in der heutigen Welt beschreiben und wer sind ihre wichtigsten Vertreter?
Nina Katschnig: Art Brut ist heutzutage kein unbekannter Underdog mehr, sondern längst weltweit im zeitgenössischen Kunstwesen angekommen und in Museen, Galerien, die früher wohl eher keine Art Brut gezeigt hätten, oder renommierten Ausstellungen wie der Biennale di Venecia vertreten. Einige der weltweit berühmtesten Vertreter der Art Brut-Kunst sind die aus der Schweiz stammenden Adolf Wölfli und Aloïse Corbaz, die Amerikaner Bill Traylor und Martín Ramírez, aber auch die Gugginger Künstler Johann Hauser, Oswald Tschirtner oder August Walla sind weltberühmt. Als Walla damals gestorben ist, hat die New York Times eigens zu seinen Ehren einen Nachruf geschrieben. Zudem hat das renommierten New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) fünf Werke von Leopold Strobl angekauft und widmet sich in einem neuen Ausstellungsbereich permanent der Art Brut.
Access Guide Magazin: Sie haben in den letzten Jahren den ausgestellten Künstlerpool neben den Guggingern auch um externe Künstler erweitert. Wie kam es dazu?
Nina Katschnig: Das machen wir bereits seit 2009, wo wir die Gesellschaftsform extra ändern ließen, um andere Künstler auch ausstellen zu dürfen und unseren Horizont zu erweitern. Die erste Ausstellung, die wir damals gemacht haben war african american artists, die wir gemeinsam mit den gugging classics präsentiert haben. 2020 hat dann unser Art Brut-Urgestein Oswald Tschirtner die kubanische Art Brut-Künstlerin Misleidys Castillo Pedroso in der gemeinsamen Ausstellung … weiblich mächtig – männlich zart … quasi an der Hand genommen und diese Symbiose hat gut funktioniert.
Access Guide Magazin: Was kann man von den kreativen Kunstschaffenden in Gugging lernen?
Nina Katschnig: Was ich gelernt habe ist Geduld und dass die Künstler ihren eigenen Fahrplan haben. Sie lehren einen tatsächlich immer im Jetzt zu sein, denn das ist der Ort, wo sie sind und nur dort können sie kreativ sein. Es ist faszinierend zu sehen, wie sie vor deinen Augen etwas aus dem Nichts erschaffen und dabei vollkommen präsent sind. Das was sie machen, tun sie mit Hingabe, wenn sie zeichnen, dann zeichnen sie und wenn sie essen, dann essen sie. Sie bleiben sich selbst immer treu.
Access Guide Magazin: Gibt es ein besonderes Erlebnis mit den Künstlern, das Sie teilen möchten?
Nina Katschnig: August Walla hat einmal etwas Lustiges zu einem Fotografen gesagt, der ihn gebeten hat, für ein Bild das er von ihm machen wollte, zu lachen. Darauf entgegnete ihm Walla so richtig grantig „Wieso soll ich denn lachen, das hört man doch eh nicht am Büdl?“
Access Guide Magazin: Wie sieht es bei Ihnen zu Hause aus und gibt es so etwas wie ein Lieblingsbild?
Nina Katschnig: Im Grunde lebe ich bei mir zu Hause auch nicht viel anders als hier. Ich bin umgeben von Kunstwerken, die mir Freude bereiten. Es passiert natürlich schon auch, dass ich mir gelegentlich eine Arbeit von einem „Nicht Gugginger“ kaufe, aber im Grunde sind das dann meist auch Art Brut-Werke von befreundeten Galeristen & Künstlern. Und so etwas wie ein Lieblingsbild gibt es nicht, ich liebe sie alle und könnte ohne Bilder nicht leben.
Access Guide Magazin: Danke für das Gespräch.
Bild ganz oben: „Rolls“ von August Walla, 1999