Bin das wirklich ich, oder spiele ich mich nur in den mir von der Gesellschaft zugedachten Rollen? Wäre ich eine andere oder ein anderer, wenn ich diese Ketten sprengen könnte und auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen müsste? Was wäre ich, wenn jegliche soziale Kontrolle wegfällt? Darüber haben Sara und Werner nachgedacht:
Sara* stellt sich vor, sie wäre „eine Ratte aus einem gehobenen Etablissement, ich muss mir keine Sorgen um die Essensbeschaffung machen, denn immer wenn meine Freundin kommt, bekomme ich die besten Leckereien. Sie ist ungefähr zwanzig Mal so groß wie ich, aber ich weiß, dass ich keine Angst vor ihr haben muss. Sie gehört zum Rudel und wird uns immer beschützen und vor Raubtieren verteidigen. Manchmal klettere ich an ihrer Kleidung hoch. Dann gebe ich ihr Bussis und schmiege ich an ihren Nacken unter die kuscheligen Haare. Manchmal knabbere ich an den Haaren, weil ich bin eine Ratte und habe Appetit auf die skurrilsten Geschmäcker, Conditioner ist einer davon. Kabel nage ich auch gerne an – denn offensichtlich bin ich ein Nager.
Einmal hat mir meine große Freundin eine besondere Leckerei mitgebracht, ein Stück Käse. Vor lauter Eile, den Leckerbissen endlich genießen zu können, habe ich aus Versehen in ihren Finger gebissen. Ich war danach traurig und dachte, dass sie mich nicht mehr gern haben würde. Voller Scham lag ich flach auf dem Boden und schaute sie mit meinen Kopfaugen an – selbstverständlich habe ich vorher mein Stück Käse gegessen – da kann doch keiner wiederstehen! Ich liebe es, den ganzen Tag herumzutoben, zu klettern und meine Rattenfreunde zu putzen. Ich führe ein entspanntes Leben. Jeden Tag kann ich mich freuen, wenn meine Freundin nach Hause kommt. Sie ist nicht nur riesig und ich fühle mich bei ihr sicher – nein sie ist sogar ein mobiler Kletterbaum und auch noch meine Futtermaschine. Obwohl ich satte 50 m2 zum Herumtoben habe, erkunde ich gerne neue Gebiete, aber meine Freundin lässt mich nicht! Meistens höre ich auf sie, wenn sie mich ruft – aber nicht immer. Ganz toll finde ich es, wenn ich auf ihrer Schulter sitze und wir herumspazieren. Die neue Umgebung und die verschiedenen Gerüche sind faszinierend. Vor allem wenn ich im Garten herumlaufen darf ist das ein Riesenspaß!“
Und Werner V.* bekommt Flügel: „Der Schmetterling breitet sich aus – Aus dem Cocon – Cocon der Grausamkeit – Gefangen in Pein – Peinlich und verdammt – In alle Ewigkeit – Sicherheit der Flügel wegen – Von wegen aus dem Schmerz gepellt – Tief in der Raupe – Gekrochen von Blatt zu Blatt – Gewurzelt, zwischen den Halmen – Sicherheit, Schutz, an einen Ort zu kommen – Formiert und erstarrt – In der Stille, zur Transformation – Er starrt, erstarrt, verharrt der Stille wegen – Flügel, Farben, Form, Filigran – Einer Elfe entgegen – Lebendig, farbenfroh – Senkrechte Flügel, Sicherheit geben – Fliegen, Strahlen, unverblümt – Dem Leben, Farbenvielfalt geben – Narben verblassen, im Flug – Dem Wind Auftrieb – Flügel in die Höhe – Aus der Tiefe – Schönheit, Farben Liebe legen“.
*Sara und Werner V. (Namen geändert) sind Teilnehmer*innen von Eranos, einem Projekt zur beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen.