Was für ein Skandal: Die Wissenschaftlerin Saraswati ist weiß. Schlimmer geht es nicht. Denn die Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf war eben noch die Übergöttin aller Debatten über Identität – und beschrieb sich als Person of Colour. Das Outing löst eine rasante Jagd nach „echter“ Zugehörigkeit aus. Während das Internet Saraswati hetzt und Demos ihre Entlassung fordern, versucht die Studentin Nivedita ihre Professorin zu verstehen. Mithu Sanyals Roman „Identitti“ basiert unter anderem auf der wahren Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal, die 2015 als Weiße geoutet wurde. „Der Fall ging damals durch alle Medien, vor allem durch alle sozialen Medien: Eine Weiße, die sich als Schwarze ausgab – das war so unfassbar, dass das Internet vor Entrüstung explodierte. Ich wollte damals unbedingt darüberschreiben – nicht über Dolezal, sondern über die vehemente Debatte, die mich in einer ganz merkwürdigen Form persönlich berührte – und keinen kulturwissenschaftlichen Text, weil alle Sichtweisen so wahr waren und gleichzeitig so falsch. Nur ein Roman kann all diese sich widersprechenden Stimmen enthalten. Und die Idee eines umgekehrten Passings ist einfach eine großartige Geschichte“, sagt Mithu Sanyal in einem Interview mit dem Hanser Verlag. Je ernster ein Thema sei, desto wichtiger sei es, darüber lachen zu können.
Hauptfigur des Romans ist die sechsundzwanzigjährige Nivedita, die gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Oluchi am tiefsten von Saraswatis Enthüllung getroffen ist. Beide empfinden diese als persönlichen Verrat, reagieren aber sehr unterschiedlich darauf. Während Oluchi sich öffentlich gegen Saraswati wendet, geht Nivedita zu ihr und versucht, von ihr zu erfahren: Warum? Nivedita ist gewissermaßen die Anwältin der Lesenden. Sie stellt die Fragen, die Saraswatis unfreiwilliges Outing aufwirft. Nivedita sucht in Saraswatis Wohnung nach Hinweisen auf ihre Geschichte. Und bis zum Ende weiß die junge Frau nicht, ob das, was sie schließlich über die Beweggründe ihrer Professorin herausfindet, wirklich „die Wahrheit“ ist.
Auf der anderen Seite ist Nivedita in ihrer besonderen Form von Saraswatis Betrug verletzt, weil sie die Erfahrungen gemacht hat, die sie nun einmal gemacht hat. „Wir verarbeiten unsere Erfahrungen auf der Basis unserer persönlichen Geschichte. Deshalb erzählt das Buch in Rückblenden von Niveditas Leben, von ihrer komplexen und komplizierten Beziehung zu ihrer Cousine Priti, die den Vorteil hat, dass ihre beiden Eltern aus Indien kommen. Denn es ist Niveditas Lebensthema, dass sie als mixed race kid zwischen allen Stühlen sitzt und durch alle Kategorien fällt”, sagt Mithu Sanyal. In Saraswatis Seminar hat Nivedita das erste Mal das Gefühl, richtig zu sein, so wie sie ist. Und dann ist plötzlich Saraswati nicht mehr die, für die Nivedita sie gehalten hat. „White Supremacy war so etwas wie die Erbsünde in den Postcolonial Studies, das Zentrum des Erdbebens, dessen Erschütterungen noch heute zu spüren waren. Aus diesen historischen Gründen ist weiß untrennbar mit weißer Vorherrschaft verbunden. Weiß hatte niemals eine andere Bedeutung. Entsprechend können sich weiße Menschen auf ihr Weißsein auch nicht anders beziehen als durch die Brille weißer Herrschaft, es gibt für sie keine spezielle weiße Kultur oder weiße Musik, weil für sie alles weiß ist, wie in einem Schneesturm. Schwarze werden nach wie vor diskriminiert — keine Frage! —, aber gleichzeitig verbinden wir mit Schwarzsein auch Vorstellungen wie Revolution und Subversion und Black Power. Von Weißsein dagegen gibt es keine progressiven Vorstellungen“, meint Saraswati in dem Roman und behauptet dass „Weißsein etwas ist, das auch Weiße einschränkt.“
Im Hinblick auf ihre eigene Verstellung meint die Romanfigur: „Lügen kann eine Form sein, die Wahrheit zu sagen. Manchmal ist es notwendig, die Messiness der Welt zu nehmen und sie deutlicher zu machen, damit sie verstanden werden kann“. Race sei lediglich ein System, um Menschen in Raster zu packen, aus denen sie gefälligst nicht ausbrechen dürfen. Und um gar keinen Preis dürfen sie an der Autorität dieser Raster selbst zweifeln. Saraswati selbst empfindet sich als Race-Terroristin. Sie führt die Authentizität der Raster ad absurdum. Sie sprengt sie und baut aus ihren Splittern eine neue Welt, in der race etwas ist, mit dem man spielen kann und das einen nicht schicksalhaft bestimmt. „Denn das Phantasma race ist nicht nur ,da draußen`, sondern ,hier drinnen`: Es steckt in unseren Köpfen und Körpern und Seelen, ist so vehement Teil unseres gemeinsamen gesellschaftlichen Selbstverständnisses und staatlichen Handelns, dass genau das dringend nottut, was Saraswati Decolonizing nennen würde. Von all dem und noch viel mehr erzählt dieser Roman.“, schreibt Mithu Sanyal in ihrem Nachwort zu dem Roman. Identitti ist im Hanser Verlag erschienen.