Mit den Mitteln beeindruckender Animationskunst und inspiriert von der Flucht ihrer Urgroßeltern aus Odessa erzählt die Filmkünstlerin Florence Miailhe in „Die Odyssee“ eine berührende und hochaktuelle Geschichte. Im Interview verrät die Regisseurin, warum sie diesen Film gemacht hat.
Access Guide Magazin: Ihr Film Odyssee wirkt sehr aktuell, obwohl Sie schon vor einem Jahrzehnt mit der Arbeit daran begonnen. Was hat sie ursprünglich dazu inspiriert?
Florence Miailhe: In den frühen 2000ern erlebte Europa eine beispiellose Welle von „illegalen“ Migrant*innen, von denen die meisten aus Afrika und dem Nahen Osten kamen und an den Stränden von Malta oder Lampedusa landeten. Der Tod des kleinen Aylan Kurdi, der 2015 ertrunken an einem türkischen Strand gefunden wurde, machte allzu deutlich, welche herzzerreißenden Schicksale sich hinter dem doch recht abstrakten Wort „Migration“ verbergen können. Seit ich mit der Arbeit an „Odyssee“ begonnen habe, haben mich die Fakten immer wieder darin bestätigt, dass Kunst diese Realität darstellen sollte. Meine Familiengeschichte ist selbst eine der Migration. Wie Tausende andere verließen meine Urgroßeltern zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Heimat Odessa, auf der Flucht vor antisemitischen Pogromen. Viele von uns kommen von woanders her und es braucht viel Mut, Einfallsreichtum und Hoffnung, diese immensen und gefahrvollen Reisen auf sich zu nehmen. Ich wusste auch, dass die individuellen Abenteuer außergewöhnlich und oft genug tragisch sind – und es auf jeden Fall wert sind, erzählt zu werden.
Access Guide Magazin: Welche Art von Recherche haben Sie für den Film betrieben?
Florence Miailhe: Ich habe mich sehr stark von Fotografien inspirieren lassen. Ich habe in Archiven über einen langen historischen Zeitraum nach Fotos von Migrant*innen, Lagern und Plünderungen gesucht. Eine weitere Inspirationsquelle fand ich in den Skizzenbüchern meiner Mutter, Mireille Miailhe, die aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammen. Sie war damals kaum aus dem Teenageralter heraus. Wie Kyona, die Heldin des Films, zeichnete sie ständig ihre Familie, ihre Freunde, Szenen aus dem täglichen Leben. Ihre Zeichnungen dienten mir als Vorlage für einige der Charaktere und Szenen des Films. Diese Skizzen, die in einer kriegerischen Zeit entstanden sind, haben im Film einen fast dokumentarischen Wert.
Der Film ist auch mit vielen persönlichen Geschichten angereichert: Da wären meine Großeltern, die ihre Kinder im Gepäck versteckten, weil sie nicht genug Geld hatten, um die Zugfahrt für die ganze Familie zu bezahlen, meine Mutter und ihr Bruder, die 1939-40 alleine in die unbesetzte französische Zone fuhren. Wir haben Mythen, Geschichten aus dem letzten Jahrhundert und zeitgenössische Zeugnisse ineinander verwoben. Die gemeinsamen Linien all dieser Epen haben wir herausgearbeitet, um so eine universelle und zeitlose Geschichte erzählen zu können.
Access Guide Magazin: Der Film ist als Erzählung angelegt, warum dieses Genre?
Florence Miailhe: Viele meiner früheren Kurzfilme sind Adaptionen von Märchen oder wurden wenigstens von ihnen inspiriert. Märchen erlauben eine distanzierte Haltung einzunehmen, nur die groben Umrisse eines Sachverhalts zu behalten und Zugang zu einer menschlichen Wahrheit zu finden, die zu allen Zeiten und an allen Orten gültig ist. Wir haben uns von Charakteren und archetypischen Märchenmotiven inspirieren lassen und haben sie auf aktuelle Situationen bezogen: die Kinder sind alle kleine Däumlinge, die auf ihrer Flucht von ihren Eltern getrennt werden, Oger schmuggeln Kinder, die Hexe Babayaga versteckt einen jungen Migranten, der sich im Wald verirrt hat. Ob nun böse oder wohlgesonnene Charaktere, sie alle finden ihre Entsprechung in Märchen. Was nun Adriel und Kyona betrifft, so besitzen sie Charakteristika von Hänsel und Gretel oder auch von Gerda und Kay aus Hans Christian Andersens Schneekönigin. Indem wir Gewesenes mit der Gegenwart auf so intime Weise verknüpfen, können wir alle Publikumsschichten ansprechen.
Access Guide Magazin: Gemalte Animation auf Glas ist sehr beeindruckend, aber auch zeitaufwändig. Warum arbeiten Sie mit dieser Technik?
Florence Miailhe: Ich habe schon immer mit animierter Malerei direkt unter der Kamera gearbeitet. Das ist eine Technik, die ich besonders mag. Für mich war von vornherein klar, dass „Die Odyssee“ auf genau diese Weise erzählt werden musste. Wir lösen uns mit ihr ein wenig von der Realität, Erinnerungen werden geweckt. Wenn ich mir die Landschaft meiner Kindheit vorstelle, erinnere ich mich an einen sehr blauen Himmel, einen sehr schwarzen Berg. Das Reale erscheint verfremdet und sublimiert. In diesem Sinne haben wir Sets und schließlich die Form der Animation entwickelt, wobei wir die Zerbrechlichkeit des Materials und seine Vergänglichkeit berücksichtigt haben.
Access Guide Magazin: Sie haben einige sehr besondere, manchmal unheimliche Charaktere geschaffen. Woher kommen sie?
Florence Miailhe: Die Figuren wurden sowohl von Märchen als auch von tatsächlichen Begebenheiten inspiriert. Jon stellt eine universelle Figur des Bösen dar, ist aber auch von den Menschenhändlern inspiriert, die seit jeher Profit aus menschlichem Elend schlagen. Die Babayaga finden wir so oder so ähnlich in vielen traditionellen Märchen, in denen ein junges Mädchen ein Jahr in Gesellschaft einer alten Frau in einem verlorenen Wald verbringt. Das bürgerliche Paar besteht gleichsam aus Oger und Schneekönigin, die Geschichte erinnert hier an Situationen, in denen Kinder entführt und in reiche Familien gebracht werden. Straßenkinder, die sich wie Krähen von den Müllhalden ernähren, gibt es wiederum tatsächlich noch in vielen Ländern.
Access Guide Magazin: Danke für das Interview.
Die Odyssee ist am ersten und dritten Mai 2022 im Filmhaus Spittelberg zu sehen.