Ein windiger Nachmittag Ende Jänner. Fetzen einer Gratiszeitung fliegen über den Vorplatz des Heiligenstädter Bahnhofs und bleiben in den Fahnenstangen des gegenüberliegenden Karl Marx Hofs hängen. Die Sonne hat noch keine Kraft, immerhin ist der Himmel blau. Bei der Trafik bilden sich Schlangen, wahrscheinlich gibt´s wieder einen Jackpot im Lotto. Auch vor der kleinen Bäckerei, die, weil Sonntag ist, nur noch eine Stunde geöffnet hat, wartet eine Gruppe von Menschen. Die wollen, geführt von Tour-Guide Lukas in den nächsten beiden Stunden raus aus der Gegenwart, zurück in die Zeit des Roten Wiens, als die Befreiung von den kapitalistischen Fesseln noch eine Möglich- und keine Vergeblichkeit war.
Die Reise beginnt in einem der großen Höfe des Baus im Jahr 1927: Wien wird seit acht Jahren sozialdemokratisch regiert und ist dabei das erste große Reformprojekt einer Millionenstadt umzusetzen. Die Ausgangslage ist trist, die Stadt ist verelendet, die Bevölkerung arm. Nicht zufällig trägt die Tuberkulose den Namen „Wiener Krankheit“. Vorrangige Ziele der Stadtregierung sind deshalb die tiefgreifende Verbesserung der Lebensbedingungen und eine weitreichende Demokratisierung der Gesellschaft. Das „Neue Wien“ der 1920er und frühen 1930er Jahre ist ein einzigartiges gesellschaftspolitisches Experiment, das sämtliche Lebensbereiche der Menschen umfasst – von der Sozial- und Gesundheitspolitik über das Bildungswesen bis zum sozialen Wohnbau. Im Wohlfahrts- und Gesundheitswesen erkennt der engagierte Arzt und Stadtrat Julius Tandler als erster, dass die Ursachen vieler Erkrankungen und gesellschaftlicher Missstände in den sozialen Verhältnissen liegen. Auf seine Initiative hin entsteht ein dichtes Netz von Kindergärten und Horten, von Schulzahnkliniken und Mutterberatungsstellen.
Im Bereich der Bildung öffnete Otto Glöckel den Frauen den freien Zugang zu den Universitäten und startet die „Wiener Schulreform“, die die unterschiedlichsten Strömungen der fortschrittlichen Pädagogik der Zeit vereint. Auch die Schaffung neuer Erholungs- und Freizeiträume ist integraler Bestandteil des Konzepts der sozialdemokratischen Stadtverwaltung. Zur sportlichen Betätigung der Bevölkerung werden neue Spiel- und Turnplätze eingerichtet, und anlässlich der Zweiten Arbeiterolympiade 1931 wird das Praterstadion erbaut. Die größte Errungenschaft des Roten Wien ist jedoch der kommunale Wohnbau. Insgesamt werden in knapp 10 Jahren über 380 Gemeindebauten mit mehr als 64.000 Wohnungen errichtet, manche davon als regelrechte „Stadt in der Stadt“ mit eigener Infrastruktur.
Als Teil dieser Gemeinschaftseinrichtungen entstehen in den neu errichteten Gemeindebauten auch zahlreiche Arbeiterbüchereien. 1932 etwa werden in den rund 60 Arbeiterbüchereien mehr als zwei Millionen Entlehnungen registriert. Parallel zur kommunalen Wohnbautätigkeit entwickelt die sozialdemokratische Stadtverwaltung ein Bäderkonzept, das erstmals auch den hygienischen Erfordernissen einer Millionenmetropole Rechnung trägt. Von 1919 bis 1929 entstehen – meist im Verbund mit großen Wohnhausanlagen – 25 neue Badeanstalten. Die finanzielle Grundlage für all diese Vorhaben schafft Finanzstadtrat Hugo Breitner mit einem neuen, sozial gestaffelten Steuersystem, einer zweckgewidmeten Wohnbausteuer und diversen Luxusabgaben für beispielsweise Bordell- oder Pferderennbesuche.
Der Karl-Marx-Hof wird nach Plänen des Otto-Wagner-Schüler Karl Ehn als Musterbeispiel eines monumentalen „Superblocks“ errichtet. Nach vier Jahren Bauzeit findet die offizielle Eröffnung am 12. Oktober 1930 statt. Der Karl-Marx-Hof verfügt von Beginn an über zwei Zentralwäschereien mit 62 Waschständen, zwei Bäder mit 20 Wannen und 30 Brausen, zwei Kindergärten, eine Zahnklinik, eine Mutterberatungsstelle, eine Bibliothek und ein Jugendheim, außerdem über ein eigenes Postamt, eine Krankenkasse mit Ambulatorium, eine Apotheke und 25 Geschäftslokale.
Auch die 1929 gegründete und vom Architekten Ernst Lichtblau geleitete „Beratungsstelle für Inneneinrichtung und Wohnungshygiene“ hatte hier ihren Sitz. Wo einst der Fokus auf demokratisches Design gelegt wurde, ist heute eine Prothesenmanufaktur untergebracht. Und so landen wir, mehr als 70 Jahre nach der Niederlage der Sozialdemokratie und dem Beginn des Austrofaschismus, wieder in der Jetztzeit und warten auf den Bus. Am Himmel über uns sammeln sich die Krähen zum gemeinsamen Flug ins Nachtlager. Der Wind hat sich gelegt. „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen“, zitiert eine der Mitreisenden Karl Seitz, den legendären Bürgermeister des Roten Wien, während sich die Gruppe wehmütig auflöst. Was für ein schöner Traum. Das Rote Wien im Waschsalon