Susann Sontag hilft ihren Klient*innen seit über 30 Jahren mit Hypnosetherapie, Gesprächs- und systemischer Therapie. In ihrer jahrelangen Berufspraxis hat die deutsche Therapeutin festgestellt, dass es den meisten Erkrankten sehr häufig an liebevoller Akzeptanz und Wertschätzung mangelt – nicht nur durch die Außenwelt, sondern vor allem auch durch sich selbst. In ihrem jüngsten Buch widmet sich die Autorin den vielfältigen Wegen zur Selbstliebe.
Access Guide Magazin: Warum fällt es vielen Menschen so schwer, sich selbst zu lieben?
Susann Sontag: In der Arbeit mit meinen Klienten habe ich festgestellt, dass es eine große Scheu gibt, sich selbst zu begegnen. Durch Erziehung und Umwelteinflüsse haben wir einen inneren Kritiker – ja sogar einen inneren Richter in uns etabliert und sind uns dessen oftmals nicht bewusst. Im Alltag ist es jedoch für uns immer wieder leidvoll spürbar, wie kritisch und urteilend wir uns selbst gegenüber stehen. Viele Menschen behandeln ihre Freunde wesentlich mitfühlender und nachsichtiger als sich selbst. Die häufigsten Ängste, die mir in meiner Praxis begegnet sind, sind z.B. die Angst nicht gut genug zu sein oder die Angst, dass jemand anders entdecken könnte, dass wir nicht die sind, die wir vorgeben zu sein. Die Angst, uns selbst zu erkennen und zu entdecken, wer wir wirklich sind, scheint sehr grundlegender Natur zu sein. Über diese oftmals unbewusste innere Konditionierung und diese tiefen inneren Urteile hilft uns viel Mitgefühl und Verständnis für uns selbst hinweg. Erst jenseits dieser Selbstverurteilungen können wir entdecken und erkennen, was für wundervolle Wesen wir sind und können mit uns selbst Frieden schließen. Diese bedingungslose, liebevolle Akzeptanz des eigenen Soseins ist Selbstliebe.
Access Guide Magazin: Wer und was haben Sie zu diesem Buch inspiriert?
Susann Sontag: Mir wurde durch einige eigene schwere, lebensbedrohliche Krankheiten bewusst, dass Heilung vor allem in mir selbst geschieht. Sie kann nur dann geschehen kann, wenn ich mich selbst genauso akzeptiere und liebe, wie ich bin, wenn ich mir selbst mitfühlend und verständnisvoll begegne. Damit begann ein langer Weg, auf dem auch meine vielen Klienten eine wichtige Rolle spielten; denn auch bei ihnen war es so offensichtlich, dass ganzheitliche Heilung und liebevolles Mitgefühl mit sich selbst, sowie bedingungslose Selbstliebe Hand in Hand gehen. Den letzten Ausschlag für dieses Buch gab das langsame Sterben meiner Mutter, die sich selbst sehr kritisch sah, sich nicht geliebt fühlte und aus meiner Wahrnehmung dadurch einen sehr schweren Leidensweg hatte, ehe sie in Frieden gehen konnte. Diese Buch half mir, Frieden mit dem langsamen und leidvollen Sterben meiner Mutter zu schließen.
Access Guide Magazin: Was fehlt in unserer Gesellschaft Ihrer Meinung nach momentan am meisten?
Susann Sontag: Uns fehlt ein gesellschaftliche Verständnis dafür, wie wichtig der Respekt vor der Einmaligkeit des einzelnen Menschen ist, sowie Anerkennung und Wertschätzung der Einmaligkeit des einzelnen Menschen. Respekt, Anerkennung, Wertschätzung und Liebe braucht ein Mensch von Geburt an.
Wir sind eine sehr leistungsbezogene Gesellschaft, die sich immer weiter optimieren will. Wenn ein Kind, das sich z.B. mit Rechnen schwertut und sich in der Grundschule durch eine Klassenarbeit durchgekämpft hat, in der es am Ende 5 Aufgaben von 10 richtig gerechnet hat und dann in der Bewertung durch den Lehrer nur gezeigt bekommt, dass es (die anderen) 5 Aufgaben falsch gerechnet hat, dann halte ich das für einen Weg, der unserer heutigen Zeit nicht mehr gerecht wird und der zu unglaublich viel Frustration, Selbstentwertung und später eben zu Wut und Hass führt. Ich habe viele Jahre mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet, die aus sozial benachteiligten Familien stammten. Überall fehlte es an Wertschätzung, an Respekt, an Liebe. Wie geht es so einem kleinen Menschen, der in den prägenden Jahren seines Lebens Tag für Tag darauf hingewiesen wird, was er falsch macht? Ja, letztendlich den Eindruck bekommt, dass er/sie selbst falsch IST! Durch lange Auslandsjahre, in denen meine 3 Kinder auch auf Schulen im Ausland gingen, weiß ich, dass es anders geht. Kinder können mit mehr Respekt und Wertschätzung aufwachsen als es in unserer Gesellschaft oftmals der Fall ist. Menschen, die Respekt und Wertschätzung erfahren, tun sich sehr viel leichter damit, sich selbst zu respektieren und wertzuschätzen und können dann wiederum andere Menschen sehr viel leichter respektieren und wertschätzen. Das ist ein Kreislauf von Geben und Nehmen.
Access Guide Magazin: Wie kann das Prinzip Selbstliebe in Zeiten persönlicher Krisen gelebt werden?
Susann Sontag: Das ist eine sehr große Frage. Krise bedeutet: Entscheidung. Ich stehe mit mir und mit meinem Leben vor einer Entscheidung. Es fällt natürlich leichter, durch Krisenzeiten zu gehen, wenn wir uns bereits vorher mit uns selbst und der Fürsorge für uns selbst beschäftigt haben, wenn wir gelernt haben, mitfühlend und verständnisvoll mit uns selbst und allem, was uns geschieht, umzugehen. Aber Krisenzeiten sind eigentlich immer auch „gute“ Zeiten. Sie geben uns die Chance, in unserem eigenen Leben neu hinzusehen, uns weiterzuentwickeln und das bisher gelebte Selbstverständnis zu hinterfragen. Auch mein eigener Weg ging durch die Krise hindurch zur Selbstliebe. Mein erster Schritt war damals Akzeptanz. Das bedeutete damals: anzuerkennen, dass ich mich als Mutter von drei kleinen Kinder in einer Gesundheitskrise befand, die mein Leben kosten könnte. Ich lernte, ein „Ja“ zu dem zu sprechen, was damals als „Fakt“ im Raum stand. Krisen erfordern zuerst einmal Akzeptanz dessen, was ist – es ist ja JETZT da. Dann braucht es Mitgefühl für sich selbst, Selbstfürsorge und Eigenverantwortung. Krisen sind ein Übungsplatz für Akzeptanz, für Mitgefühl für sich selbst, für Selbstfürsorge und für die Übernahme von Eigenverantwortung. Ich werde mit der Einmaligkeit meines eigenen Lebens konfrontiert. Nur ich erlebe diese Krise und in mir liegt auch die Lösung. Krisen stellen mir die Frage: Wo stehe ich JETZT in meinem Leben? Wo will ich hin mit meinem Leben? Und was bin ich bereit dafür zu tun?
In Krisen habe ich die Möglichkeit, die Akzente anders zu setzen und mir z.B. Hilfe zu suchen, was ich sonst nicht täte. Ich kann mir unterschiedliche Ansprechpartner suchen und ich bin gefragt, egal ob ich einem Therapeuten, Arzt, Heilpraktiker oder Coach gegenüber sitze: was von dem Angebot ist für mich wirklich brauchbar und gut? Wo fühle ich mich gesehen? Wie will ich damit umgehen? Diese Auseinandersetzung mit mir und einem geschulten Gegenüber hilft mir zu mehr Klarheit über mich, zu mehr Eigenverantwortung, zu mehr Selbstfürsorge und alle diese Schritte sind Schritte auf dem Weg zur mehr Selbstliebe.
So zeigt sich in Krisenzeiten, dass unter dem großen Begriff „Selbstliebe“ eher ein ganz individueller Weg zu verstehen ist, den jeder nur für sich gehen kann und weniger ein Prinzip, das erlernbar wäre. Ich habe das auch bei meinen vielen Klienten miterlebt, wie jede*r einzelne seinen /ihren eigenen einmaligen Weg zu sich selbst fand. Und der Weg ist nie zu Ende gegangen. Es geschieht in unserem Leben immer wieder, dass die alten Muster sich wieder zeigen, dass wir uns wieder in Krisen befinden und wir uns wieder daran erinnern dürfen, dass wir liebevoll, mitfühlend, fürsorglich und vor allem akzeptierend mit uns selbst umgehen dürfen, weil wir einmalig sind und immer genug sind, so wie wir sind.
Access Guide Magazin: Wie wichtig ist Selbstermächtigung für uns und was genau ist damit gemeint?
Susann Sontag: Selbst-er-Mächt-igung bedeutet: mir selbst die Macht zurückzugeben, die ich an andere abgetreten habe in der Hoffnung, dass mich diese anderen respektieren und wertschätzen, weil ich es selbst nicht kann. Oder um ein anderes Bild zu benutzen: Selbstermächtigung bedeutet, wieder Kapitän an Bord meines Lebensschiffes zu werden. Also z.B. die Beurteilung über mich und meine Leistungen nicht an die Lehrer in der Schule abzutreten oder später an meinen Vorgesetzten in der Hoffnung, er/sie möge mich respektieren und wertschätzen – die Entscheidungen über meine Gesundheit nicht an meinen Arzt oder Therapeutin abzutreten in der Hoffnung, er/sie weiß, was mir gut tut – mein Glücklichsein nicht an einen Lebenspartner oder Lebenspartnerin zu übergeben, von dem/der ich erhoffe, dass er/sie mich glücklich macht. Wir treten unglaublich viel unserer Lebenskraft und unserer „Macht“ unbewusst und eher automatisch an andere ab, weil es gesellschaftlicher Konsens ist, dass wir uns erhoffen, dass wir dort Mitgefühl, Anerkennung, Wertschätzung, ja Liebe erhalten.
Der erste Schritt ist der, mir selbst bewusst zu werden, was ich da eigentlich getan habe und tue. Kein anderer Mensch hat Macht über mich, es sei denn ich gebe sie ihm. Wieso mache ich mein Wohlergehen von meinem Arzt abhängig, obwohl mir die Medikamente definitiv nicht gut bekommen? Wieso mache ich mich von den Launen einer Vorgesetzen abhängig, wo ich vielleicht woanders ein viel netteres Arbeitsumfeld finden könnte? Da stellen sich viele Fragen. Lisa Fitz fasste es mal so zusammen: „Ich möchte am Ende nicht, dass mein Leben allen anderen gefallen hat nur mir selbst nicht.“ So ist der erste Schritt zur Selbstermächtigung vielleicht der, mich zu fragen: Gefällt mir mein Leben so wie es ist? Und wenn nicht, was hätte ich gerne stattdessen? Was bin ich bereit, dafür zu tun? In meiner Praxis stellte ich allen meinen Klienten die Frage: „Wenn Sie ganz alleine in der Welt wären – wirklich ganz alleine – wie würden Sie leben wollen?“ Diese Frage ist aufrüttelnd und sehr schwer zu beantworten, weil wir gewohnt sind, uns an anderen Menschen auszurichten und weil wir unbewusst vermeiden, ganz alleine mit uns zu sein. Ich halte Selbstermächtigung für sehr wichtig, denn ich denke, dass wir nur eine friedliche, verständnisvolle Gesellschaft erschaffen können, wenn wir alle ein selbstermächtigtes Leben führen. Selbstermächtigung bedeutet im gelebten Alltag: ich respektiere mich, ich liebe mich, ich wertschätze mich so wie ich bin. Wenn ich mich respektiere, liebe und wertschätze, dann respektiere und wertschätze ich auch andere und meine Liebe zu anderen bekommt eine ganz andere Qualität.
Es gibt eine Geschichte eines alten Mannes, der diese Selbstliebe-Liebe zu anderen bedingungslos lebte. Diese Geschichte zeigt sehr, worum es eigentlich geht: In einem öffentlichen Verkehrsmittel trieb eine jugendliche Band von Schlägern ihr Unwesen. Eines Tages stieg dieser alte Mann in die Bahn und die Schläger gingen drohend auch auf ihn zu. Er sprach sie sanft an, ging auf sie zu wie ein liebevoller, verständnisvoller Vater, der erkannte, wie viel Schmerz und Selbstverurteilung in jedem dieser Jugendlichen wohnte. Er bat den Ganganführer, sich neben ihn zu setzen und legte ihm sanft seine Hand auf den Kopf, um ihn zu streicheln, woraufhin der Anführer in Tränen ausbrach. Das ist bedingungslose Liebe in Aktion. Es gibt kein Urteil mehr, keine Angst mehr. Das strahlt auf andere aus. Wir alle leiden an unseren eigenen harten Urteilen gegen uns selbst. Selbstermächtigung ist ein wichtiger Schritt zu wahrer Selbstliebe.
Access Guide Magazin: Ist Ihre Namensähnlichkeit mit der amerikanischen Schriftstellerin Susan Sontag zufällig oder steckt Absicht dahinter?
Susann Sontag: Es steckt keine Absicht dahinter. Ich habe den Namen „geheiratet“. Es gibt eine lustige Geschichte. Während mein Mann und ich in Frankreich lebten, lebte Susan (1 „n“!) Sontag auch in Frankreich. Mein Mann wurde aufgrund seines Nachnamens gefragt, ob er Susan Sontag kenne und er meinte ganz trocken. „Ja, ich bin mit ihr verheiratet!“ Er hatte keine Ahnung, dass es diese Schriftstellerin gleichen Namens gab und das führte zu einem sehr lustigen Missverständnis, als ich dann auftauchte. Mein Vorname schreibt sich mit 2 „n“ – die Namen sind also nicht 100% gleich.
Die Familie meines Mannes ist vor vielen Generationen aus Schweden eingewandert und so wurde Syndag zu Sontag. Bei meiner Eheschließung kannte ich weder Susan Sontag noch plante ich, jemals ein Buch zu schreiben. Mein Geburtsname ist Susann Rahn und ich habe lange überlegt, meinen Geburtsnamen als Autorennamen zu nehmen, um eben diese Verwechslungen nicht zu haben. Die Namensgleichheit ist für mich eher von Nachteil, da ich sehr schlecht im Netz gefunden werde und meine große Namensvetterin immer zuerst in Erscheinung tritt.
Access Guide Magazin: Danke für das Gespräch.
Das Buch ist im Juli 2020 im Lebensschritte Verlag erschienen.