Die Wiener Albertina widmet sich in einer aktuellen Ausstellung der US-amerikanischen Fotografie zwischen den 1930er- und 2000er-Jahren. Anhand der Werke von 33 Künstlerinnen und Künstlern werden essenzielle Strömungen der vergangenen Jahrzehnte vorgestellt. Das Hauptaugenmerk der Arbeiten liegt auf der Vermessung der USA anhand der Darstellung der Menschen und ihres Lebensumfeldes. Der oft durch alltägliche Begebenheiten dargestellte Mikrokosmos erlaubt Rückschlüsse auf US-amerikanische politische Zustände und soziale Verhältnisse der jeweiligen Zeit und hält das Land und seine Bewohnerinnen und Bewohner in all ihren Eigenheiten und Widersprüchen fest. Mehrfach gelingt es aus Europa eingewanderten Künstlerinnen und Künstlern, mit dem Blick von Außenseitern bisher unbekannte Aspekte wahrzunehmen und neue Impulse zu setzen.
Mit bissigen, humorvollen und zuweilen voyeuristischen Aufnahmen des gesellschaftlichen Lebens erneuerte beispielsweise Lisette Model in den 1940er-Jahren die amerikanische Dokumentarfotografie. Einer Wiener Familie entstammend, emigrierte Model 1938 nach New York, wo sie sich in kürzester Zeit als Schlüsselfigur der dortigen Kunstszene etablieren konnte. Sie fotografierte sozial Benachteiligte der New Yorker East Side, exzentrische Figuren der Upper Class und von Immigrantinnen und Immigranten bevölkerte Nachtlokale. Auch als Lehrerin begründete Model die einflussreiche Porträttradition der Nachkriegszeit, die durch einen subjektiven Blick auf unterschiedliche Lebenswelten gesellschaftliche Normen und soziale Konventionen hinterfragt. Models berühmteste Schülerin ist Diane Arbus. Sie setzte die Anregungen ihrer Lehrerin in formal strengen Fotografien um und zeigte Außenseiter wie Durchschnittsmenschen.
Die Fotografinnen und Fotografen der Ausstellung begegnen ihren Motiven unterwegs auf Roadtrips oder in den Großstädten, deren Dynamik sie in Schnappschüssen mit einer bis dahin unbekannten Unmittelbarkeit einfangen. Vermeintlich banale Insignien der Konsumkultur finden über die Pop-Art Eingang in doppelbödige Farbkompositionen. Nüchterne Dokumentationen und konzeptuelle Inszenierungen von zersiedelten Vorstädten zeigen menschliche Abgründe oder gescheiterte Wohlstandsträume. Sie stellen eine kritische Dekonstruktion des „American Dream“ dar, die für viele der in der Ausstellung präsentierten Positionen kennzeichnend ist. Die Ausstellung umfasst mit rund 150 Werken viele der bedeutendsten amerikanischen Fotografinnen und Fotografen von William Eggleston über Lewis Baltz bis zu Gregory Crewdson. Sie speist sich aus den umfassenden Beständen der Albertina. Seit der Gründung der Fotosammlung im Jahr 1999 konnte durch eine rege Sammeltätigkeit eine der weltweit profiliertesten Sammlungen amerikanischer Fotografie aufgebaut werden. Sie wird durch Hauptwerke aus einer der bedeutendsten Privatsammlungen der Welt ergänzt, jener von Trevor D. Traina, der auch als US-amerikanischer Botschafter in Wien gewirkt hat. Seine Leihgaben erlauben eine inhaltliche Erweiterung und Vertiefung dieser Ausstellung, die bis zum 28. November 2021 zu sehen ist. Albertina