Mangelhafte Aufmerksamkeitsfähigkeit, unzureichende Impulskontrolle und Hyperaktivität zählen zu den typischen Merkmalen von ADHS. Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung – eine immer noch unverstandene Krankheit – bedeutet für unzählige Menschen ein Leben in Zerrissenheit. Dass dabei eine Beeinträchtigung der Neurophysiologie besteht, ist auch für den Mediziner Gabor Maté unbestritten. Bei der Ursachenforschung bricht der Kanadier jedoch mit der bisher gängigen These von der genetischen Veranlagung und legt stattdessen dar, wie Erfahrungen aus der Kindheit sich auf das menschliche Gehirn auswirken. Maté glaubt, dass ADHS mit mehr Einfühlsamkeit und Fürsorge geheilt werden kann.
Sein Therapieansatz verfolgt einen Prozess der Ganzwerdung. Er hilft Eltern zu verstehen, wie ihre ADHS-Kinder ticken und Erwachsenen, emotionale Selbststeuerung zu erlernen, um Zerstreutheit, Hyperaktivität und Impulsivität nicht mehr ausgeliefert zu sein. Das Buch ist eine aufschlussreiche Mischung aus Erfahrungsberichten, Fallstudien sowie neuesten Erkenntnissen aus Neurowissenschaft, Familiensystemtheorie und Genetik – und beleuchtet diese gravierende Beeinträchtigung nicht zuletzt in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Diese Bereiche ergänzt Maté mit seiner persönlichen Erfahrung als erwachsener Betroffener, als Vater von Kindern mit ADHS und als auf diesem Gebiet erfahrener Arzt. Eine breite und fundierte Basis, die dem Experten erlaubt, den bisherigen Wissensstand zu dieser häufig falsch interpretierten Krankheit kritisch zu hinterfragen und zu ergänzen.
Gabor Maté diagnostizierte erst als Erwachsener seine eigene ADHS-Störung: „Ich hatte das Gefühl, entdeckt zu haben, was mich immer davon abgehalten hatte, psychische Integrität zu erlangen: Ganzheit, die Abstimmung und die Zusammenführung der unharmonischen Fragmente meiner Gedanken. Die nie zur Ruhe kommenden Gedanken des ADHS-Erwachsenen irren herum wie ein verwirrter Vogel, der sich hier oder da für eine Weile niederlassen kann, aber nie lange genug bleibt, um ein Nest zu bauen“, schreibt er in seinem neuen Buch „Unruhe im Kopf“. Der Schock dieser Selbsterkenntnis war für Maté sowohl belebend als auch schmerzhaft. Erstmals sah er einen roten Faden für das Verstehen von Erniedrigungen und Fehlschlägen, von unerfüllten Plänen und nicht gehaltenen Versprechen, von Ausbrüchen manischer Begeisterung oder von scheinbar grenzenloser Fehlorganisation von Aktivitäten, Gehirn, Auto, Schreibtisch und Zimmer. Die Diagnnose schien viele seiner Verhaltensmuster, Gedankenprozesse, kindischen emotionalen Reaktionen sowie seine Arbeitssucht und andere Suchtneigungen zu erklären. „Hinzu kamen die plötzlichen Ausbrüche schlechter Laune und totaler Irrationalität, die Konflikte in meiner Ehe und mein Verhalten im Umgang mit meinen Kindern, das an Dr. Jekyll und Mr. Hyde erinnerte. Und auch mein Humor, der sich zu den unmöglichsten Gelegenheiten zeigt und die Menschen zum Lachen bringt oder aber fröstelnd zurücklassen kann“, schreibt Matè.
Unruhe im Kopf besteht aus sieben Teilen. In den ersten vier werden die Merkmale der Aufmerksamkeitsdefizitstörung beschrieben und ihre Ursprünge erläutert, während in den letzten drei der Heilungsprozess im Mittelpunkt steht. Teil Fünf, über das ADHS-Kind, richtet sich nicht nur an Eltern, sondern auch an Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung, da er ihnen wichtige Informationen liefert, sich selbst verstehen zu lernen. In ähnlicher Weise können Eltern, die die Kapitel über Erwachsene mit ADHS lesen, vielleicht weitere Erkenntnisse über ihre ADHS-Kinder und über sich selbst erlangen. Gabor Matés positiver und empathischer Ansatz ist ein Plädoyer für eine konstruktive Sicht auf diese Krankheit mit dem Ziel, die so anstrengende Unruhe in Kopf und Leben zu verstehen und zu heilen. Der 1944 geborene Autor ist Spezialist für die Themen Sucht, Stress und kindliche Entwicklung. Für seine medizinische Arbeit erhielt er den Order of Canada, die höchste zivile Auszeichnung seines Landes. „Unruhe im Kopf“ ist vor kurzem im Narayana Verlag erschienen.