Die Gesellschaft setzt Werte fest, an denen wir uns orientieren und das Selbstbild formen. Die Mehrheit bestimmt, was normal und was nicht normal ist. Was aber, wenn man in diesem reglementierten Spannungsfeld keinen Platz findet? Die Teilnehmer:innen des jüngsten Access Guide Magazin-Schreibworkshops haben versucht, Antworten zu finden.
Boots*: „Ich fände es faszinierend ,normal‘ zu sein. Dann hätte ich kaum oder keine gesundheitlichen Probleme, ich wäre neurotypisch. Ich würde ein Haus, eine Frau, zwei Kinder, einen Hund und einen fixen Bürojob wollen. Ich wäre weiß, cis-männlich und heterosexuell. Ein Teil von mir wünscht sich, normal zu sein, weil die Gesellschaft, das Gesundheitssystem und die Welt für ,normal‘ ausgerichtet ist, oder? Es fühlt sich für mich als trans-, bi-sexuelle, dicke, mental und körperlich chronisch kranke Neurodiverse jedenfalls so an.
Für mich ist es normal, sich immer wieder am Ende zu fühlen, sich immer wieder zu viel oder zu wenig gleich zu fühlen, sich nicht normal zu fühlen. Ich möchte ich sein, ich möchte existieren, ich möchte mich gut fühlen – nur, warum ist es so schwierig? Weil ich nicht normal bin oder weil diese Welt Individualität und Anderssein nicht versteht, verstehen will, akzeptiert oder toleriert? Being different can be so powerful, excitment to exist, but why so empty, why so sad.“
Babsi*: „Was ist schon normal? Was bedeutet es „normal“ zu sein und wie wird der Begriff definiert? Wer hat denn in dieser Welt nicht das Bedürfnis normal sein zu wollen? Egal ob in der Familie oder im Freundeskreis – vorausgesetzt es sind „echte“ Freund:innen. Wer wie ich aus der Reihe tanzt, wird von klein auf mit Bewertungen bombardiert wie ,Du bist nicht normal, weil du mit Spielzeug für Jungs spielst, dich für andere Sachen interessierst, als andere. Du bist nicht normal, weil du dich anders anziehst als andere!` Mir ist es wirklich sehr wichtig, dass andere mich für normal halten! Ich bin ja auf meine individuelle Weise normal. Ich darf denken, was ich will – auf meine normale, ausgeflippte Art und Weise. Normal zu sein, definiert einen nicht. Normal ist langweilig. Sicher wird es auch in Zukunft Momente geben, in denen ich mich anpassen möchte. Aber bin das dann wirklich ich selbst? Zu welchem Preis? Will ich der Mensch sein, der von allen gemocht wird, oder will ich der Mensch sein, der sich selbst liebt? Für alle, die diese Frage beantworten können, hat die Frage nach dem „Normalsein“ keine Bedeutung mehr.“
Aurelio*: „Das augenscheinlichste, was an mir nicht normal ist, ist meine Körpergröße. Weil ich so abnormal groß bin, hat sogar schon ein Magazin über mich geschrieben. Das war eine witzige Geschichte, die allerdings in meinem eigenen Erleben sehr ernst gewesen ist. Viele Leute sprachen mich immer wieder wegen meiner Größe an – sei es auf der Straße, im Beruf, im Freundeskreis, unter Verwandten – immer begleitet mich die Frage nach meiner Größe. Meistens nervt mich das, aber natürlich weiß ich mittlerweile damit umzugehen.
Am liebsten ist es mir, wenn alle um mich wie Zombies auf ihre Handys schauen, dann falle ich ihnen gar nicht auf. Am schlimmsten sind die Besoffenen. Mir selbst fällt es manchmal auch auf, wie groß ich tatsächlich bin und mir gefällt es. Und ja, ich bin auch stolz darauf so eine Größe zu haben, denn ich bilde mir darauf nichts ein.
Was mich oft stört ist, dass die Welt der Menschen für Normalgroße gebaut ist und ich quasi nirgends physisch ergonomisch reinpasse. Ich muss immer Ausgleichsbewegungen machen, um nicht dauerhaft eine gekrümmte Haltung anzunehmen. Wahrscheinlich hat mich das Groß-Sein auch sehr stark psychisch geprägt. Erstens weil ich schon immer der Größte unter Gleichaltrigen war, das fällt ganz einfach auf und wird schnell zum Thema. Und zweitens musste ich aufgrund meiner Größe auch Mobbing erleiden. Da baut sich dann eine psychische Schutzschicht auf. Gott sei Dank bin ich aber nicht nur in der Größe vom Körper her abnormal, sondern auch generell jemand, der nicht so ganz in den Rahmen passt. Wenn man mich näher kennenlernt, merkt man, dass so vieles an mir und vieles von dem, was ist mache, nicht normal ist. Das ist es aber, was mich auszeichnet.“
Kit-Kat*: „Mit dem Thema Normalität musste ich mich leider schon sehr früh auseinandersetzen. Schon im Kindergarten wurde ich von ,normalen‘ Mädchen ausgestoßen und ich fragte mich ständig: Warum? Was stimmt nicht mit mir? Warum wollen die anderen Mädchen nichts mit mir zu tun haben? Bin ich denn so seltsam? So hässlich? So … dick? Warum bin ich so anders? … Warum bin ich nicht so normal wie die anderen Kinder?
Diese Fragen und auch das Thema verfolgte mich mein ganzes Leben lang – bis heute. Ja, auch heute stelle ich mir diese Frage und um ehrlich zu sein, gibt es für mich einfach keine Antwort darauf, was normal ist und was nicht. Für jeden Menschen bedeutet dies etwas anderes. Auch wenn die sogenannte Gesellschaft es gerne hätte, dass es jeder gleichsieht. Eben normiert.
Ich sehe dies so: Ich bin nicht normal! Oder etwa doch? Und wieder ein innerer Kampf um diese Frage. Nichts ist normal und alles ist abnormal! Oder? Ich kämpfe auch heute noch darum, irgendwo mein Plätzchen zu finden. Unter Menschen. Oh, Gott! Menschen! Ich habe unter anderem Agoraphobie und wirklich echte Angst vor Menschen. Und doch sieht es mir kaum einer an. Warum? Dank Tabletten wirke ich nach außen so, als wäre ich normal“.
Kae*: „Wumm, wumm, wumm – fordert, fordert, fordert – was, was, was – reagieren, reagieren, reagieren – wumm, wumm, wumm – es, es, es.
Herzschlag donnert – Herzschlag ausblenden – Herzschlag wandert ins Hirn – handeln, im Fluss funktionieren – wächst ein großes Nervenbeben – Vertrauen in die Atmung – Energie, zum Worte fassen – setzt sich fest in jedem Teil meines Selbst.
Vibrierender Körper, emotionale Energie – gewaltig brodelnd – Das Ohr fängt ein, das Auge sieht – süßlich, schmierende Tonlage: Brauchst Du etwas? Alles ok? Brüllend bricht der Damm in Millisekunden: Es geht mir gar nicht gut! Eingenistet in meine Stimme – Ausbrechend durch meine Körpersprache – vermute ich – weiß ich.
Diese Reaktion war mit einzig möglich – mein Gegenüber zerschlagen! Du hast aggressiv gebrüllt, zum Fürchten! Bemerkbar gemacht, falsch bemerkbar gemacht – mein Normal.“
Liliette*: „Ich war nie normal. Schon im Kindergarten war ich immer mit den Burschen unterwegs. Habe Insekten, Spinnen und andere kleine Tierchen gesammelt. Barbies wollte ich nie. Naja manchmal schon, aber nur, um meiner Cousine zu zeigen, wer die besseren Barbies hat. Meine Eltern hats nie gestört, ich durfte so sein, wie ich bin – Hauptsache ich war glücklich. In der Schule wars dann anders. Mit den Mädchen konnte ich nicht und die Burschen fanden mich doof. Ich habe lange probiert ,normal‘ zu sein, dazuzugehören – mit mäßigem Erfolg. Mit der Zeit war ich immer mehr online unterwegs. Ich fand dort neue Freunde und Bekanntschaften. Sie waren so wie ich, eigen, einzigartig und auf ihre ganz besondere Art wunderschön. In dieser Gruppe fühlte ich mich das erste Mal richtig wohl und gut aufgehoben. Wir waren eine Familie von ,Unnormalen‘. Heute muss ich mich nicht mehr verstellen. Ich lebe meine Art wieder aus, wie damals im Kindergarten. Ich will mit Lego spielen? Fuck it – let’s go! Warum, nur weil ich ,erwachsen‘ bin,sich selbst den ganzen Spaß verbieten?
So fühle ich mich wohl, so fühle ich mich echt und keiner kann mir das nehmen. Ich habe keine Angst mehr davor aufgrund meiner Art, meines Aussehens oder meiner Hobbies nicht angenommen zu werden. Wenn das manchen Menschen nicht passt und sie nicht damit zurechtkommen, ist das einfach deren Pech.“
*Namen geändert.