Rotwerden, Schweißausbrüche und der Wunsch im Boden zu versinken sind Anzeichen dafür, dass uns etwas peinlich ist oder verlegen macht. Das Gefühl der Scham kennen wir von klein auf. Aber obwohl es uns allen so vertraut ist, fällt es den meisten unendlich schwer, darüber zu sprechen. Dabei hat der Affekt der Scham auch eine wichtige Funktion. Sie schützt den Beschämten und sein soziales Umfeld.
Wenn wir uns schämen, schauen wir mit den Augen unseres sozialen Umfelds auf uns selbst. Und das hat evolutionäre Gründe: „Unser Motivationszentrum braucht den positiven Blick auf uns selbst, weil uns das Ansehen der Anderen in die Gemeinschaft inkludiert“, erklärt der deutsche Neurowissenschaftler Joachim Bauer. Wer sich schämt, fürchtet die Ausgrenzung. Evolutionspsychologisch zählt die Scham zu den sozialen Emotionen. Ihre Wurzeln hat die Scham in der menschlichen Urgeschichte, als wir noch in Horden lebten. Damals entschied der soziale Status über den Zugang zu den besten Ressourcen, Schutz und Fortpflanzungsfähigkeit. Ein niedriger Status konnte im Fall einer Krankheit oder Verletzung auch tödlich enden. Um auf Hilfsbereitschaft und hingebungsvollen Pflege zählen zu können, war es wichtig, die in der Gemeinschaft geltenden Normen und Regeln zu befolgen. Das gilt im Grunde auch heute noch.
Die Dosis macht das Gift
Während Scham als sozialer Kompass eine wichtige Funktion erfüllt, ist ein Zuviel an Scham allerdings emotionales Gift für uns. Die Schweizer Psychotherapeutin Silvia Zanotta hat sich eingehend mit der toxischen Scham beschäftigt. Um ihr beizukommen brauche es ein starkes Gegenmittel. „Die Scham ist das Aschenputtel unter den Gefühlen. Sie ist oft nur schwer zu erkennen, weil sie sich hinter anderen Gefühlen wie Angst, Wut oder Ekel versteckt. Wer sich schämt, möchte sich zurückziehen oder verschwinden. Manche Menschen wehren Scham ab, indem sie versuchen, andere zu beschämen, und überheblich, aggressiv oder zynisch reagieren“, sagt Zanotta.
Unser Körper reagiert unwillkürlich, wenn eine beschämende Situation auftritt. Der Körper geht in den Verteidigungsmodus. Dabei gibt es verschiedene Formen: Erstarren, Kämpfen in Form von zurückbeschämen oder Gewalt, aber auch Flucht durch Entkommen in Größenfantasien oder Sucht. Die toxische Scham sei für unseren Organismus überaus bedrohlich, es ist ein Gefühl von „Nicht-mehr-Sein-Wollen“, „Sich Auflösen-Wollen“ oder von Verschwinden. Auf körperlicher Ebene kommt das einer totalen Erstarrung beziehungsweise einem Kollaps gleich.“ sagt Zanotta. Im therapeutischen Kontext sei es am besten der Scham mit Anerkennung und Sicherheit zu begegnen. Ganz wichtig sei dabei, nicht zu vergessen, dass es nur einen, einzigen Menschen braucht, um einen anderen zu unterstützen und ihm dabei zu helfen, zu überleben.
Beschämung als Strafe
Die Wiener Soziologin Laura Wiesböck ist ebenfalls der Frage nachgegangen, warum wir uns schämen. Sie siedelt Scham an der Grenze von Individuum und Gesellschaft an. Wer sich schämt, verliert das Vertrauen in sich selbst. Wer sich nicht schämt, ist für die Gemeinschaft verloren. „Beschämung und Demütigung sind Machtpraktiken, die das soziale Verhalten regulieren”, sagt Wiesböck und „Scham ist eine soziale Waffe, die dazu verwendet wird, Mitglieder der Gesellschaft zu regelkonformem Verhalten zu bewegen. Sie ist deshalb ein so machtvolles Instrument, weil sie auf einem sehr sensiblen Punkt ansetzt, und zwar bei der Würde und sozialen Anerkennung. Deswegen kann Scham ein vernichtendes Gefühl sein.” Als soziales Regulativ wirkt Beschämung zwar unterschwellig, aber meistens sehr effektiv. Besonders der weibliche Körper werde sehr stark beschämt. Ähnliches gilt für Menschen, die von Armut betroffen sind. Auf dem Land, wo jeder jeden kennt – und richtet, führt das oft dazu, dass Anspruchsberechtigte von Mindestsicherung diese viel seltener in Anspruch nehmen als in der Stadt. Aus soziologischer Sicht entsteht Scham aus der Diskrepanz von Selbstbild und den Erwartungen, die von außen an einen herangetragen werden. Historisch betrachtet waren Beschämungen auch immer in der Praxis der Bestrafung zu finden, weil sie ein mächtiges Instrument bei der Durchsetzung von Normen sind.
Alle Expert*innen, die in diesem Text zu Wort kommen, waren Vortragende bei einer Fachtagung von pro mente Wien, die sich Anfang des Jahres den Themen „Scham und Beschämung“ widmete.