Viele Male hörte Anita Kaiser-Petzenka in Trauma-Kliniken, dass sie doch eigentlich gesund sei. Doch die 50-jährige Künstlerin konnte über viele Jahre nicht über den wahren Grund ihrer Beschwerden sprechen: das Trauma ihrer Kindheit. „Die gut gemeinten Aufforderungen meiner Therapeutin, ‚darüber‘ zu reden, führten regelmäßig dazu, dass ich gedanklich abdriftete“, sagt Kaiser-Petzenka im Rückblick und spricht damit ihre dissoziativen Zustände an. Zu überwältigend sei das Geschehene gewesen, um ausgesprochen werden zu dürfen. Dann entdeckte sie die Kunst für sich. „Dem Trauma den Stachel ziehen“, hieß Kaiser-Petzenkas erstes Bild, in dem sie das Erlebte plastisch und detailreich aufmalte. „Die Kunst war mein Schlüssel aus der Isolation“, sagt Petzenka-Kaiser heute.
Kaiser-Petzenkas Geschichte ist kein Einzelfall. „Scham ist ein sehr wirkmächtiges menschliches Grundgefühl und kann uns sozial sowohl schützen als auch behindern“, sagt pro mente Wien Obmann Georg Psota und fügt hinzu: „Scham verhindert, dass psychisch erkrankte Menschen rechtzeitig Hilfe suchen. Scham ist eine massive Zusatzbelastung für von psychischen Erkrankungen Betroffene und auch für deren Familien. Deshalb müssen wir es ansprechen, darüber reden und lösen.“ Anlass dazu bietet die nächste Tagung von pro mente Wien, die am 16. Jänner 2020 unter dem Titel „beschämt & SCHAM“ stattfinden wird.
Die Kunst ist ein Weg, sich öffnen zu können. „Bei der Fachtagung wird Scham interdisziplinär und multiperspektivisch zum Thema gemacht werden — von Psychiaterinnen und Psychiatern, Psychologinnen und Psychologen, Psychotherapeutinnen und -therapeuten, Künstlerinnen und Soziologinnen“, sagt Psota. Namhafte Expertinnen und Experten werden aus dem Alltag der psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxis berichten, darunter der Neurowissenschaftler Joachim Bauer aus Deutschland, die Hypnosetherapeutin Silvia Zanotta aus der Schweiz oder die Klinische und Gesundheitspsychologin Helga Kernstock-Redl aus Wien. „Wir werden die Geschichte der Scham konsequent aufrollen – von ihren Anfängen als soziale Anpassungsfunktion in der Kindheit bis hin zur toxischen Scham und ‚Entschämung‘“, sagt Andreas Schwab, pro mente Akademie-Geschäftsführer und inhaltlicher Koordinator der Tagung. So wird etwa Silvia Zanotta aus ihrem Berufsalltag als Traumatherapeutin berichten und Helga Kernstock-Redl über den konstruktiven Umgang mit Scham bei Kindern und ihre Erfahrungen mit einer psychoedukativen Scham-Gruppe sprechen.
Beschämungen zementieren Machtverhältnisse
Soziologin Laura Wiesböck wird einen Einblick in die soziale Funktion der Scham liefern. „Aus der Soziologie wissen wir, dass Beschämungen dazu dienen, Machtverhältnisse zu Ungunsten von Beschämten herzustellen“, so Wiesböck. „Egal ob es um den weiblichen Körper oder Armutsbetroffenheit geht: Ziel ist es, Beschämte in ihrem Selbstwert zu beschädigen und sie ‚auf ihren Platz zu verweisen‘, indem sie aufgefordert werden, sich bestimmten Verhaltensregeln und Werten unterzuordnen, z.B. wie der weibliche Körper auszusehen hat oder dass Armutsbetroffenheit eine selbstverursachte gesellschaftliche Belastung ist.“ Die Ö1-Redakteurin Margarethe Engelhardt-Krajanek wird über ihre Erfahrungen mit „Scham in der journalistischen Arbeit“ berichten. Als Ergänzung zum Vortragsprogramm wird eine Ausstellung der beiden Künstlerinnen Karin Birner und Anita Kaiser-Petzenka aus Nürnberg geboten. Die pro mente Wien Fachtagung „beschämt & SCHAM“ findet am 16. Jänner 2020 von 9 bis 16.30 im Tech Gate, Vienna Donau-City-Straße 1, 1220 Wien statt. Zur Anmeldung.