„Wenn es um psychische Gesundheit und Krankheit geht, tun wir oft und gerne so, als ginge uns das alles nichts an. Als wären Menschen mit psychischen Erkrankungen Outlaws“, schreibt Beatrice Frasl in ihrem aktuellen Buch „Patriarchale Belastungsstörung“. Die Kulturwissenschaftlerin untersucht darin den Zusammenhang von Geschlecht, Klasse und Psyche.
In Ländern wie Deutschland und Österreich können wir uns auf eine medizinische Notversorgung verlassen. Gibt es einen Unfall, wird ein Rettungswagen gerufen, Patient:innen mit körperlichen Verletzungen werden in ein Krankenhaus gebracht und schnellstmöglich versorgt. Ganz anders gestaltet sich die Situation im Bereich der psychischen Erkrankungen. Lange Wartezeiten und zu wenig Therapieplätze erschweren hier die Behandlung. Um daran etwas zu ändern, sei es notwendig psychische und physische Krankheiten gleich ernst zu nehmen. „Schlechte Gesundheitsversorgung in Sachen Psyche betrifft uns ausnahmslos alle. Aber sie betrifft uns nicht alle im gleichen Ausmaß – soziale und ökonomische Ungleichheiten und patriarchale Geschlechterverhältnisse bringen einen äußerst ungleichen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und ein äußerst ungleich verteiltes Erkrankungsrisiko hervor.“, schreibt Frasl. Zwischen 2007 und 2017 stiegen die psychischen Erkrankungen weltweit um 13 Prozent an. Die Coronapandemie hat diese Entwicklung noch befördert. Trotz dieser besorgniserregenden Situation werden in Mitteleuropa nicht genügend Mittel zur Verfügung gestellt, um Menschen in akuten psychischen Krisen adäquat zu versorgen.
Als einen Grund dafür ortet Beatrice Frasl mangelnden politischen Willen: „Das „Othering“ von psychisch Kranken ist vermutlich auch deshalb so ausgeprägt, weil es so viel mit jeder von uns zu tun hat und einer Gesellschaft, die uns kaum zugesteht, „Schwäche“ zu zeigen“. Das privatisierte Problem einer psychischen Erkrankung solle auch deshalb nicht gezeigt und besprochen werden, weil es als Ergebnis eines privaten Versagens verstanden werde. Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken seien nach wie vor sozial ungleich verteilt: Je höher der Sozialstatus, desto besser sei in der Regel die Gesundheit.
Unser Gesundheitssystem schreibe Ungleichheiten fort. Sozialer und ökonomischer Background, kulturelle Rahmenbedingungen und der neoliberale Leistungsgedanke bestimmen, wer gesund ist und wer nicht, wer krank sein darf und letztendlich auch: wem Behandlungsmöglichkeiten offenstehen und wem diese verwehrt bleiben.
Psyche und Geschlecht
Leidtragende seien vor allem Frauen, sind sie doch doppelt so oft von Depressionen betroffen als Männer: „Patriarchale Verhältnisse führen zu einer ungleichen Verteilung von Ressourcen – von Geld, von Zeit, von Raum. Und in Folge auch zu einer ungleichen Verteilung von Gesundheit zwischen den Geschlechtern“, schreibt Frasl. Der Grund, warum Frauen so viel häufiger von Depressionen und Angsterkrankungen betroffen sind als Männer, warum Männer jedoch weniger oft Ärzt:innen aufsuchen und sich behandeln lassen, liege u. a. in den stereotypischen Vorstellungen und Rollenbildern, die wir im Laufe unseres Aufwachsens erlernt haben. Frausein im Patriarchat bedeute Gefährdung auf vielen Ebenen. Der Mangel an ökonomischer Sicherheit, die körperliche und psychische Gewalt, denen Frauen sehr viel häufiger ausgeliefert sind, und die Doppelbelastung, die durch Arbeit und Care-Arbeit auf den Schultern von Frauen lastet, sind zusätzliche Gründe dafür, warum weibliche Personen zur Risikogruppe zählen und durch unzureichende Krankenversorgung abermals benachteiligt sind.
Psychologische und lebensgeschichtliche Auslöser für psychische Erkrankungen seien oft nicht von sozialen und strukturellen Gründen zu trennen. So unterscheiden sich weibliche von männlichen Lebensgeschichten häufig durch einen Mangel an Sicherheit und Raum oder dem stärkeren Ausgeliefertsein an Schönheits- und Schlankheitsdiktate. In der Pubertät erleben Mädchen als Folge des auf ihnen lastenden heterosexuell-männlichen Blicks die Wandlung vom Subjekt zum Objekt. Frausein im Patriarchat bedeutet demnach Dauerstress und ein höheres Risiko für Traumata und Erkrankungen.
Beatrice Frasl widmet sich in ihrem Buch auch der Geschichte psychischer Erkrankungen. Sie zeigt auf, wie Diagnosen als Herrschaftsinstrument verwendet wurden oder immer noch werden und wie die Psychiatrie durchzogen ist von der Setzung des Männlichen als Norm. Die Autorin schreibt auch aus der Perspektive der Betroffenen und stellt die Frage, wie wir mit psychischen Erkrankungen umgehen können. Sie richtet den Fokus auf die sozioökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Vorbedingungen für die Entstehung psychischer Erkrankungen. Dass die psychische Krankenversorgung keine Selbstverständlichkeit ist, hänge eng mit der Pathologisierung bestimmter menschlicher Empfindungen zusammen, die nicht in das kapitalistische System passen. Besonders Frauen, ihre Körper und ihre Wahrnehmungen sind und waren schon immer ein Instrument zur Ausübung patriarchaler Kontrolle. Geschlechterrollen, der „Diagnose Gap” und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse. Beatrice Frasl zeigt in ihrem Buch, wie das Sprechen über psychische Gesundheit ein feministischer Akt sein kann, ein Akt, der uns allen die Macht über uns selbst zurückgibt.
Beatrice Frasl ist Kulturwissenschaftlerin/Geschlechterforscherin, Podcasterin, Kolumnistin und immer: Feministin. In ihren Arbeiten setzt sie sich seit Jahren mit den Leerstellen im Gesundheitssystem, psychischen Erkrankungen und Feminismus auseinander. In ihrem Podcast „Große Töchter“ bearbeitet sie geschlechterspezifische, gesellschaftspolitische Fragen. Als @fraufrasl betreibt sie auf Social Media Aufklärung zum Thema psychische Gesundheit und Feminismus. Ihr Ziel? Ein besserer Zugang zu Therapie für alle und: das endgültige Aus für das Patriarchat. Ihr Buch „Patriarchale Belastungsstörung“ ist im Haymon Verlag erschienen.
Bild: Beatrice Frasl © Pamela Russmann